Spitzenplatz für deutsche Placeboforschung
Die Tübinger Placeboforschung ist Teil eines deutschen Netzwerkes, das weltweit führend auf diesem Gebiet ist. Einer der Schwerpunkte sind Placeboeffekte auf die Schmerzwahrnehmung und die neurobiologischen Mechanismen, die dahinter stecken.
Seit 2004 ist Prof. Dr. Paul Enck Forschungsleiter an der Klinik für Innere Medizin VI/Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen.
© Enck, Universitätsklinikum Tübingen
„In den meisten Ländern ist Placeboforschung nur ein kleines Feld, und es gibt außerhalb von Deutschland keine überregionalen Forscherverbünde, die sich damit befassen“, sagt Prof. Dr. Paul Enck und unterstreicht damit Deutschlands Rolle als Global Player in der Placeboforschung. Enck ist Forschungsleiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen und einer von vier Sprechern der DFG-Forschergruppe, die in Tübingen, Hamburg, Marburg und Essen die Effekte von Placebos untersucht. Dafür setzen die Wissenschaftler experimentelle und klinische Modelle ein. Die DFG fördert die acht Teilprojekte seit 2010 mit mehr als zwei Millionen Euro.
Die bisherigen Ergebnisse stellten die Forscher auf einer Tagung im Januar 2013 in Tübingen vor. „Die Veranstaltung diente uns einerseits dazu, auf das Thema aufmerksam zu machen, und andererseits, um intellektuellen Input für Folgeanträge zu bekommen“, sagt Enck. Die finanziellen Mittel für die Tagung stellte die VW-Stiftung bereit, die bis 2011 bereits ein Großprojekt zur Placeboforschung unter Tübinger Beteiligung gefördert hatte. Enck selbst kommt aus der Gastroenterologie und erforscht im Rahmen des DFG-Projekts Placebo-Effekte im Magen-Darm-Trakt. Die erste Frage dabei war, ob Placebos grundsätzlich überhaupt in der Lage sind, Schmerzen in diesem Bereich auszuschalten. Das beantwortet er inzwischen mit einem klaren Ja: „Wir und die Kollegen vor allem um Professor Eisenbruch in Essen haben mittlerweile gute Daten, die das stützen. Allerdings sind wir uns noch nicht völlig darüber im Klaren, ob die analgetische Wirkung somatisch oder neurokognitiv ist. Diese Diskussion war unter anderem Thema der Tagung“, erklärt Enck.
Placebo-Effekt beruht auf der neurologischen Verarbeitung von sensorischen Wahrnehmungen
Seine bisherigen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass das Schmerzempfinden eine Folge der Beurteilung von sensorischen Reizen ist. Diese Beurteilung findet im Gehirn statt, ist also neurokognitiv. Die klinischen Ergebnisse dazu wurden hauptsächlich in Essen und Tübingen erarbeitet, unter anderem mithilfe von speziellen Sonden, die im Magen-Darm-Trakt von Studienteilnehmern platziert wurden. Das Tübinger Team steuert zudem Daten aus der peripheren Schmerzforschung bei. Für grundsätzliche Aussagen zu Placeboeffekten auf das Schmerzempfinden wird dabei häufig mit Hitzereizen gearbeitet. „Üblicherweise arbeiten wir mit der Thermodentechnik. Dabei wird zum Beispiel am Unterarm eine hohle Metallplatte angelegt, die mit aufgeheiztem Wasser durchströmt wird. Dann testen wir das Schmerzempfinden unter Placebogabe“, so Enck. Die Placebogabe kann zum Beispiel erfolgen, indem dem Teilnehmer eine vermeintlich schmerzstillende Creme zwischen Haut und Metall aufgetragen wird. Im Grunde ist die Sache dann recht einfach: Der Teilnehmer wird mit und ohne Placebo befragt, wie intensiv er den Hitzereiz jeweils wahrnimmt.
Die Herausforderung liegt darin, die Versuchsanordnungen so zu konzipieren, dass die Ergebnisse wissenschaftlich eindeutig sind. Dafür stehen den Wissenschaftlern neben den Befragungen auch diverse biomedizinische Analysemethoden zur Verfügung. So gibt zum Beispiel die Zusammensetzung des Speichels Auskunft über das Erregungsniveau, das sich je nach Schmerzempfindung ändert. Speziell im Magen-Darm-Trakt können Elektrogastrogramme (EGG) abgeleitet werden. Ähnlich den ebenfalls eingesetzten Elektroenzephalogrammen (EEG, misst elektrische Aktivität im Gehirn) gibt ein EGG Auskunft über die elektrische Aktivität in der Erregungsleitung – in diesem Fall als Antwort auf Schmerzreize im Magen-Darm-Trakt.
Relativ wenig ist bisher über die Placebo-Wirkung bei chronischen Krankheiten bekannt. Das wollen die Forschungspartner des DFG-Projektes ändern. „In einem ersten Schritt wollen wir prüfen, ob die Mechanismen aus der Placeboforschung bei akutem Schmerz auf Patienten mit chronischen Schmerzen übertragbar sind. Dabei interessiert uns auch, ob chronisch Kranke anders auf akuten Schmerz reagieren als gesunde“, sagt Enck.
Tübinger Gruppe hat Placeboeffekte bei Kindern im Fokus
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Daten der funktionellen Kernspintomografie (fMRT) liefern den Tübinger Forschern Erkenntnisse darüber, wie viszerale Signale (aus dem Magen-Darm-Trakt) kognitiv verarbeitet werden.
© Enck, Universitätsklinikum Tübingen
Mit seiner Tübinger Gruppe plant Enck speziell die Untersuchung von Placeboeffekten bei Kindern. „Es gibt inzwischen eine plausible Hypothese, dass bei Kindern stärkere Placebo-Effekte auftreten als bei Erwachsenen. Das wollen wir genauer untersuchen und die Mechanismen dahinter ergründen“, so Enck weiter. Es sind mehrere Mechanismen, zu denen er sich generelle Ergebnisse erhofft: Das sind zum einen Erwartungsreaktionen wie die Ausschüttung von Endorphinen, zum anderen Pawlow’sche Konditionierungen zum Beispiel über die Farbe des Placebo. „Obwohl das der wahrscheinlich fundamentalste Mechanismus ist, ist er dennoch nicht genügend untersucht“, so Enck. Obwohl er sich mit seinen Arbeiten im nicht-klinischen Bereich bewegt, ist bei der Planung der Versuchsanordnung höchste Sorgfalt gefragt, wenn es um Kinder geht. „Generell gilt immer, dass wir so wenig invasiv wie möglich vorgehen, das gilt erst recht bei Kindern“, sagt Enck.
Ein besonders spannender Aspekt ist für ihn die Analyse des „sozialen Lernens“, das möglicherweise ebenfalls einen wichtigen Mechanismus des Placeboeffektes darstellt. Enck will zum Beispiel herausfinden, wie Kinder in ihrem Schmerzempfinden auf Vorbilder reagieren. Spielt es eine Rolle, ob es sich um gleichgeschlechtliche Vorbilder handelt und wie alt eine Vorbildperson ist? Haben Eltern gegenüber Fremden einen größeren Effekt und wie wichtig ist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe? „Da die Antworten auch von hoher klinischer Relevanz sind, wollen wir das trotz der aufwändigen Versuche jetzt angehen“, so Enck.
Implantatentwicklung kann von Placeboforschung profitieren
Placebos sind gemeinhin als Pillen, Tabletten & Co bekannt. Die Placeboforschung ist jedoch auch für die Entwicklung von Prothesen und Implantaten relevant. Implantierbare Stimulatoren für diverse Körperfunktionen könnten zumindest teilweise auch in Form von Placebo-Stimulatoren wirken und entsprechend eingesetzt werden. „Ich bin sicher, dass es auch in diesem Bereich noch mehr Entwicklungen geben wird. Placebos sind generell ein sehr machtvolles Instrument, wenn Arzt und Patient daran glauben, dass es wirkt“, so Enck.
Der Forscherehrgeiz der Tübinger Gruppe gilt aber noch einem ganz anderen Aspekt. Enck möchte Medikamentenstudien in Hinblick auf Placebos optimieren. „Es kann durchaus am Studiendesign liegen, wenn ein Medikament gar nicht auf den Markt kommt, weil der Placebo-Effekt in den Studien zu groß ist. Andererseits wollen wir ja nicht riskieren, keine neuen Medikamente mehr zu erhalten“, erklärt Enck. Außerdem gibt es vielfach ethische Einwände gegen Placebostudien, wenn Patienten dadurch untherapiert bleiben. „Genau aus diesem Grund wird die Wirkung von Medikamenten in manchen Ländern wie Kanada und Brasilien nur noch gegen andere Medikamente und nicht mehr gegen Placebo getestet“, erklärt Enck. Er sieht folglich einen hohen Bedarf an neuen, adaptiven Studiendesigns, bei denen zum Beispiel mit steigenden Wirkstoff-Dosierungen gearbeitet wird, um solche Probleme zu vermeiden.
Handlungsbedarf: Placeboeffekte in Medikamentenstudien und Beipackzetteln
Handlungsbedarf sieht Enck auch bei Beipackzetteln. Hier entsteht ein Dilemma dadurch, dass Nebenwirkungen allein deshalb auftreten können, weil sie hier aufgeführt sind. Das wäre ein negativer Placebo-Effekt, auch „Nocebo“ genannt. Die Informationen zu den Vorteilen des Medikaments werden laut Enck nicht genügend kommuniziert. „Die Informationen in Beipackzetteln sollten auch dazu eingesetzt werden, Nocebos zu verhindern. Dazu müssen sie entsprechend gestaltet werden.“ Um das voranzubringen, ist Enck auf der Suche nach Kooperationspartnern aus der Pharmaindustrie, die gemeinsam mit dem Tübinger Team innovative Lösungen entwickeln.