Textil-Implantat als Reparatur-Kit für Bandscheiben
Einen Bandscheibenvorfall kann man bis heute nicht wirklich reparieren. Sind die Beschwerden gar zu groß, kann zwar operiert werden, dabei wird die Bandscheibe aber meist entfernt. Dies kann jedoch zu weiteren Einschränkungen der Patienten führen. Wissenschaftler der DITF haben gemeinsam mit NEOS Surgery S.L. ein Textil-Implantat für Bandscheibenvorfälle entwickelt, das als minimalinvasiver „Reparatur-Kit“ die Patienten nicht nur von Schmerzen befreit, sondern auch die dämpfende Funktion der Bandscheibe erhält.
Bei einem Bandscheibenvorfall reißt in Folge einer oft jahrelangen Fehl- oder Überbelastung der Wirbelsäule der harte, äußere Ring der Bandscheibe – der Anulus fibrosus. Teile des gallertartigen Bandscheibenkerns treten so aus und können auf die Nerven im vorbeiführenden Rückenmark drücken, was unter Umständen sehr schmerzhaft ist. Alleine in Deutschland sind davon jedes Jahr weit über 100.000 Menschen betroffen. Der Riss heilt nicht von selbst, und die betroffene Bandscheibe kann auch nicht mehr als Dämpfungselement in der Wirbelsäule wirken.
Eine Behandlung ist oft konservativ mit Bewegung, Entlastung, schmerzstillenden Medikamenten und Physiotherapie möglich. Schwere Vorfälle, die auch zu Lähmungserscheinungen führen können, müssen aber operiert werden. Jedoch kann auch mit einer solchen Operation die Bandscheibe nicht mehr repariert werden: Gängige Praxis ist es daher heutzutage, dass Teile der Bandscheibe entfernt werden, und man die benachbarten Wirbel zusammenwachsen lässt, was aber zu weiteren Einschränkungen der Beweglichkeit und Belastung der anderen Bandscheiben führt.
Bandscheibe wird repariert und erhalten
Wissenschaftler der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf DITF haben nun im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Eurostars-Projekt Ar-Tex gemeinsam mit der spanischen Firma NEOS Surgery S.L. ein textiles Implantat für Bandscheibenvorfälle entwickelt. Mit Hilfe dieses Implantates kann die Bandscheibe repariert und damit erhalten werden. Die Idee, den Riss in der Bandscheibe von innen zu verschließen, stammt ursprünglich von NEOS. Diese begann vor rund sieben Jahren, gemeinsam mit einem spanischen Textilforschungsinstitut, das Implantat zu konzipieren. „Das spanische Institut ist aber kein Spezialist auf dem Gebiet der Medizinprodukte und hat sich deshalb an uns gewandt“, berichtet Prof. Dr. Michael Doser, der an den DITF die Forschungsarbeiten geleitet hat und Bereichsleiter der Denkendorfer Biomedizintechnik ist.
An den DITF werden schon seit Jahrzehnten textilbasierte Produkte für die Medizintechnik entwickelt, wie beispielsweise Nahtmaterialien oder Gefäßprothesen. „Auch an einem kompletten, künstlichen Bandscheibenersatz haben wir uns früher schon versucht“, sagt Doser. „Aber dieser Ansatz jetzt ist ein komplett neuer.“ Ebenso sei ein US-amerikanisches Konkurrenzprodukt nicht vergleichbar, so der Professor: „Dieses ist nur bei sehr großen Defekten einsetzbar, weniger beweglich und füllt den Riss lediglich aus, ohne ihn wirklich zu verschließen.“
„Schirm“ spannt sich in der Wirbelsäule auf
Schematische Darstellung der Positionierung des Implantats in der Bandscheibe. Hierdurch wird der Riss im Anulus verschlossen.
© NEOS Surgery S.L.
Das gemeinsam entwickelte Implantat verschließt den Riss in der Bandscheibe mit einem textilen „Schirm“ von innen. Hierfür muss lediglich ein minimalinvasiver Eingriff vorgenommen werden. Das hierfür notwendige Spezialinstrument wurde vom spanischen Partner NEOS entwickelt. „Das Instrument wird bei dem Eingriff in die Wirbelsäule und durch den Riss im Anulus eingeführt – dieser Handgriff ist relativ kompliziert, weil es einerseits relativ tief eingebracht werden muss, aber andererseits der Platz hierfür sehr gering ist und an Wirbelkörper und Blutgefäßen vorbeigeführt werden muss, ohne zu verletzen“, erklärt der Professor. „Dann wird das Implantat mit Hilfe des Instruments im Kern der Bandscheibe platziert und aufgespannt. Der textile Schirm reicht dann über den Riss, obwohl das Implantat mit nur etwa zehn Quadratzentimetern sehr, sehr klein ist und mit einer kleinen Schraube am Wirbelkörper befestigt wird.“
Mit dem Eingriff wird der äußere Bandscheibenring wieder dicht verschlossen. Die dämpfende Wirkung der Bandscheibe für die Wirbelsäule kann, im Gegensatz zu den bisherigen Operationsverfahren, erhalten werden. „Das Textil ist so dicht gewebt, dass der gallertartige Kern nicht wieder herausgedrückt wird, und damit auch nicht auf die umliegenden Nerven drücken kann“, so Doser. Dass dies funktioniert, haben die Wissenschaftler bereits in Versuchsreihen an Wirbelsäulen aus der Pathologie bewiesen. Durchgeführt wurden die Experimente sowohl in Spanien als auch an deutschen Kliniken, beispielsweise am Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik am Ulmer Universitätsklinikum. Hier konnte die Belastung der reparierten Bandscheibe wirklichkeitsgetreu simuliert werden. Es wurde ein künstlicher Riss induziert und die Wirbelsäulen in spezialisierten Apparaturen eingespannt, und in Bewegung gesetzt.
Viel Entwicklungsarbeit bis zum endgültigen Design
Seit Beginn des Ar-Tex-Projekts wurden im Institut der DITF über 20 Design-Varianten des Implantats entwickelt und getestet. Der erste Vorschlag aus Spanien habe dem Denkendorfer Professor erst einmal gar nicht gefallen, wie er sagt. Dann habe man so lange weiter daran gearbeitet, bis sich der textile Schirm korrekt aufspannte und das textile Gewebe ausreichend dicht war. Am Ende wurden noch Röhren zur Befestigung eingewebt. „An Form und Aufbau des Textils hat sich im Lauf des Projekts viel geändert“, berichtet der Naturwissenschaftler weiter. „Erst mit den letzten beiden Varianten sind wir aber dann in die Pathologie gegangen; die Tests davor haben wir mit Wirbelsäulenmodellen gemacht. Und natürlich haben wir viel mit Ärzten diskutiert.“ Mindestens dreimal pro Jahr habe man sich mit den spanischen Partnern getroffen, sagt Doser. Aber auch sonst sei die Entwicklung des Implantats bis zum endgültigen Design ein sehr iterativer Prozess gewesen.
Implantat soll in Denkendorf produziert werden
Gewebe für den Bandscheibenverschluss mit eingewebter Röhre als Befestigungselement.
© Deutsche Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf
Da zu den DITF – für ein Forschungsinstitut einmalig – auch ein für die Medizinproduktefertigung zertifiziertes Tochterunternehmen, die ITV Denkendorf Produktservice GmbH (ITVP), gehört, konnten sämtliche Muster für das Forschungsprojekt im eigenen Unternehmen angefertigt werden. „Das ist eine große Besonderheit bei uns“, betont der Professor. „Bei der Zertifizierung des Unternehmens wurden auch gleich unsere Forschungsinstitute mit zertifiziert. Das erwies sich jetzt als großer Vorteil: Erstens sind unsere Dokumentationen gleich zulassungskonform. Und zweitens hat man uns bei ITVP erlaubt, solche Prototypen herzustellen, die man auch gleich im Menschen implantieren darf.“
So ist es geplant, im Herbst dieses Jahres, die Nullserie des Bandscheibenimplantats im eigenen Unternehmen anfertigen zu lassen. Diese Implantate sollen dann Ende 2017 in 30 Patientenwirbelsäulen implantiert und damit die Funktionsfähigkeit und die Sicherheit überprüft werden. Sind auch diese letzten, klinischen Tests erfolgreich, so soll die ITVP auch weiter den textilen Teil der Implantate produzieren. NEOS wird dann Instrument und Implantat vermarkten. Ende 2018 sollen die ersten Produkte auf dem Markt verfügbar sein, so der Plan der Partner. Für Idee und Umsetzung wurden die DITF und NEOS kürzlich in Madrid mit dem EUREKA Innovation Award 2017 in der Kategorie „Erfinder von morgen“ ausgezeichnet.