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3R-Netzwerk

Tierversuchsalternativen in die Praxis bringen

Tierversuche sind heute noch ein zentraler Baustein der biomedizinischen Forschung. Doch es zeigt sich inzwischen, dass längst nicht alle wirklich notwendig sind. Alternative Techniken gibt es bereits. Das neue baden-württembergische 3R-Netzwerk will diese nun verstärkt fördern – und dort, wo es noch keinen Ersatz gibt, das Tierwohl besser schützen.

„Jedes Jahr werden allein in Europa schätzungsweise 12 Mio. Tierversuche durchgeführt. Viele davon aus traditionellen Gründen, weil zum Beispiel hochrangige wissenschaftliche Publikationen sie als Qualitätsmerkmal für die Forschungsarbeiten voraussetzen“, schildert Prof. Dr. Marcel Leist von der Universität Konstanz die Situation. Leist hat zusammen mit seinem Kollegen Prof. Dr. Dr. Thomas Hartung 2010 das CAAT-Europe (Center for Alternatives to Animal Testing) gegründet. Das Joint Venture der Universität Konstanz und der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore sieht sich als eine Art transatlantische Brücke für Tierversuchsalternativen zwischen den USA und Deutschland.

Landesinitiative fördert Tierversuchsalternativen

Die Grafik markiert die acht Standorte des 3R-Netzwerks in Baden-Württemberg: Mannheim, Heidelberg, Stuttgart, Reutlingen, Ulm, Freiburg und Konstanz.
Das 3R-Netzwerk umfasst derzeit acht Standorte in ganz Baden-Württemberg. © 3R Center Tübingen

Auch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) hat das erkannt und will neue Ansätze zu Ersatz und Reduzierung von Tierversuchen sowie zur Verbesserung des Tierwohls und -schutzes vorantreiben. Zu diesem Zweck hat es im Mai 2021 das „3R-Netzwerk BW“ gegründet. 3R steht für „Replacement, Reduction, Refinement“ (Vermeiden, Verringern, Verbessern) von Tierversuchen. Vorrangiges Ziel des Netzwerks ist es, Tierversuche - wo immer möglich - durch entsprechende Alternativ- oder Ergänzungsmethoden zu ersetzen (Replacement) und dort, wo Tierversuche derzeit noch nicht ersetzt werden können, die Anzahl nachhaltig zu reduzieren (Reduction), bzw. das Tierwohl bestmöglich zu schützen und zu verbessern (Refinement).

Am „3R-Netzwerk BW“ sind alle in der Biomedizin aktiven Standorte in Baden-Württemberg beteiligt. „Das Netzwerk besteht aktuell aus fünf strukturellen Projekten bzw. Zentren, die als eine Art Kristallisationskeim für die Netzwerkbildung dienen sollen: Tübingen/Reutlingen, Stuttgart, Konstanz, Heidelberg und Mannheim. Außerdem sind drei Forschungsprojekte der Universitäten Heidelberg, Ulm und Freiburg sowie zwei Lehrprojekte (Hochschule Reutlingen und Universität Ulm) angeschlossen“, erklärt Dr. Silke Keller. Sie leitet in Tübingen die Geschäftsstelle des 3R-Zentrums, das das MWK bei der Koordination der Aktivitäten im Netzwerk unterstützt. „Von diesen Kristallisationskeimen aus starten wir und werden das Netzwerk dann nach und nach ausbauen.“ Das MWK finanziert mit 3,8 Mio. Euro jeweils rund 70 Prozent der Gesamtkosten aller im 3R-Netzwerk laufenden Projekte, die restlichen 30 Prozent steuern die Hochschulen als Eigenbeitrag bei.

Geplant sind Seminare und Workshops für Mitglieder sowie baden-württembergische Forscherinnen und Forscher. Zusätzlich wird es jährliche Konferenzen für alle zehn Geförderten und alle am Netzwerk Interessierten geben, die voraussichtlich alternierend an den Standorten der fünf strukturellen Projektpartner stattfinden werden. Ziel ist es, die Akteure näher zusammenzubringen, ihre Sichtbarkeit zu vergrößern und den Informationsaustausch zu fördern. „Wir sehen uns aber auch als Schnittstelle zur Politik“, so Keller. „Denn wenn man Tierversuchsalternativen etablieren möchte, muss man – gerade beispielsweise mit Blick auf den Verbraucherschutz – auch die Gesetzgeber überzeugen. Häufig werden dort heute noch Tierversuche zur Qualitätssicherung von Lebensmitteln und anderen Produkten vorgeschrieben.“

In-vitro-Alternativen gibt es bereits

Nahaufnahme eines Organ-on-a-Chip. Gut zu erkennen sind die Kapillaren und Kammern, die den Chip durchziehen.
Prof. Dr. Peter Loskill forscht mit seinem Team an Organs-on-a-Chip, die in einigen Forschungsbereichen Tierversuche ersetzen können. © Micro OrganoLab

Professor Dr. Peter Loskill ist der Leiter des 3R Centers Tübingen für In-vitro-Modelle und Tierversuchsalternativen und beschäftigt sich mit der Entwicklung und Anwendung von sogenannten Organ-on-a-Chip-Systemen. Dabei handelt es sich um komplexe mikrofluidische Systeme, die winzige funktionelle Einheiten von Organgeweben auf einem Chip nachbilden. Lesen Sie dazu auch unseren Beitrag „Mini-Organe mit großem Potenzial“.

Im April trat Loskill eine Brückenprofessur der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen mit dem NMI in Reutlingen an, die die strategische Beziehung der beiden Standorte auf dem Gebiet der Organ-on-a-Chip-Technologien noch weiter ausbauen soll. Wie das 3R-Netzwerk selbst, wird auch die Brückenprofessur durch das MWK gefördert.

CAAT-Europe sorgt für mehr Aufklärung

Prof. Marcel Leist und die DFG-Vizepräsidentin Prof. Dr. Britta Siegmund halten die Urkunde über den Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in der Hand. Ebenfalls im Bild: Die Vorsitzenden der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung Prof. Dr. Brigitte Vollmar. Im Hintergrund auf einer Leinwand zu sehen ist Prof. Thomas Hartung, der online zugeschaltet ist.
Prof. Dr. Marcel Leist (links) und Prof. Dr. Dr.Thomas Hartung (zugeschaltet) erhielten 2020 den Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der DFG für ihr „Lebenswerk“. Rechts im Bild: die DFG-Vizepräsidentin Prof. Dr. Britta Siegmund. In der Mitte: Die Vorsitzenden der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung Prof. Dr. Brigitte Vollmar. © DFG / Rolf K. Wegst

Neben Loskill und seiner Arbeitsgruppe gehört auch das CAAT-Europe von Leist und Hartung zu den fünf Kristallisationskeimen des Netzwerks. Es setzt sich dafür ein, Tierversuchsalternativen bekannt zu machen und die Politik wie auch die allgemeine Öffentlichkeit über deren Potenzial aufzuklären. Leist ist bereits seit zehn Jahren aktiv und inzwischen mit allen wichtigen Playern im Bereich der Tierversuchsalternativen vernetzt. So führt er beispielsweise am Europaparlament Workshops durch, um Politiker zu informieren. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hartung erhielt Leist als Anerkennung für sein „Lebenswerk“ 2020 den wichtigsten wissenschaftliche Tierschutzpreis Deutschlands: den Ursula M. Händel-Tierschutzpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG.

Auch am CAAT-Europe wird an In-vitro-Methoden gearbeitet. „Wir haben stammzellbasierte Labormethoden entwickelt, die die menschlichen Hirnstrukturen nachahmen und in toxikologischen Studien echte Tierversuchsalternativen darstellen können“, erklärt Leist. Außerdem haben er und sein Team Neuronenmodelle etabliert, die tierversuchsfreie Pharmastudien im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen wie Parkinson ermöglichen: „Die Modelle sind inzwischen bei 15 Pharmaunternehmen im Einsatz. Das Interesse der Industrie ist groß.“

Es gibt noch eine Reihe weiterer vielversprechender Ansätze, die helfen können, Tierversuche zu vermeiden. „Einige dieser Versuche können durch kluge, computerunterstützte Analysen bereits erhobener Daten vermieden werden. Man spricht dann von In-silico-Alternativen. Überhaupt, so Leist weiter, sei das Nadelöhr in vielen Bereichen weniger das Fehlen alternativer Technologien als deren Implementierung in die biomedizinische Forschung. Das 3R-Netzwerk und seine Partner haben sich vorgenommen, das zu ändern. Ob sich jemals alle Tierversuche auf diese Weise vermeiden lassen, ist fraglich. Aber sie lassen sich zumindest auf ein notwendiges Minimum reduzieren.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/tierversuchsalternativen-die-praxis-bringen