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Trotz neuer Befunde und Theorien bleibt Morbus Alzheimer ein Rätsel

Sie ist unheilbar, unerbittlich und unaufhaltsam wie eine Dampfwalze. Die Gehirnerkrankung Alzheimer ist die mit Abstand häufigste Form der Demenz, an der hierzulande rund eine Million Menschen leiden. 105 Jahre nach seiner Entdeckung gibt Morbus Alzheimer den geschätzten 25.000 Forschern weiter Rätsel auf und provoziert eine Vielfalt an Theorien und Hypothesen. Das zeigte ein Pressegespräch der Alzheimer Forschung Initiative (AFI), das grundlagenorientierte Arbeiten Ulmer Forscher vorstellte.

Alzheimer-Forscher Prof. Dietmar Thal (Mitte) mit Mitarbeitern Irina Lungrin und Ajeot Rijal Upadhaya im Labor am Zentrum für klinische Forschung © Pytlik

Dietmar Thal vom Institut für Pathologie untersucht mit AFI-Mitteln, welche Auswirkungen die Amyloid-ß-Protein-Klumpen auf die Hirnzellen haben. Diese kurzkettigen, für Alzheimer typischen Plaques finden sich innerhalb, aber auch außerhalb der Nervenzellen. Der 43-jährige Alzheimer-Experte ist seit 2007 Professor für Neuropathologie an der Ulmer Uni und leitete zuvor sechs Jahre eine Alzheimer-Arbeitsgruppe an der Uni Bonn.

Bei Morbus Alzheimer schneiden zwei der drei Enzyme an „falschen" Stellen das Amyloid-Vorläuferprotein (APP: Amyloid-Precursor-Protein), das der Heidelberger Molekularbiologe Konrad Beyreuther als Ursprung der Plaques 1986 identifizierte. Die längeren und unlöslichen APP-Fragmente werden nicht mehr auf natürlichem Weg vom Körper abtransportiert, sondern verklumpen zu löslichen Oligomeren, später zu unlöslichen Plaques, die an Neuronen andocken und die Signalübertragung stören.

Nach Thals Worten lagern sich diese Amyloid-ß-Proteine (Aß-Proteine) nicht überall gleichzeitig an, sondern zuerst im Neocortex (Großhirnrinde), dann in den alllocorticalen Regionen, den Basalganglien, dem Mittelhirn und schließlich im Pons und Kleinhirn. Sowohl die Tau-Fibrillenbündel als auch die Aß-Protein-Plaques - beide Proteine gelten in der Fachwelt als Hauptverantwortliche für die Erkrankung, ohne dass deren Beziehung geklärt wäre - haben nach Thals Einschätzung eine pathologische Bedeutung und sind nicht notwendigerweise altersabhängig.

Nicht jeder alte Mensch erkrankt, aber sehr viele

2008 widerlegte ein niederländischer Neurologe (Süddt. Zeitung, 10.6.2008: 115 und kein bisschen Alzheimer) die gängige Meinung, wonach jeder Mensch, wenn er nur alt genug werde, irgendwann einmal Demenz entwickeln müsse. Das Krankheitsrisiko steigt dennoch mit dem Alter. 95 Prozent der Alzheimer-Erkrankten sind älter als 65, und jeder Dritte über 85 leidet an der Krankheit. Jahr für Jahr, so die AFI, erkranken allein in Deutschland 200.000 Menschen daran. Schon 2030 rechnet man allein in Deutschland mit zwei Millionen Alzheimer-Patienten.

Thal will in weiteren Untersuchungen klären, ob nur die außerhalb der Nervenzellen liegenden Plaques toxisch sind, oder ob sie innerhalb der Zelle ebenfalls eine Rolle bei der Pathogenese spielen. Mögliche Therapien, die diese Plaques ins Visier nehmen, sollten diese nur dort angreifen, wo sie schädigen, und nicht dort, wo sie möglicherweise normale Prozesse regulieren, so seine Überlegung. Dietmar Thal arbeitet deshalb mit transgenen Mausmodellen für extra- und intrazelluläre Aß-Protein-Ablagerungen. Im Tiermodell will er ermitteln, welche Zellstrukturen zuerst angegriffen werden. Bei seinen seit November 2010 laufenden Versuchen stellte er fest, dass bei den Versuchstieren bereits nach fünf Monaten erste Veränderungen der Nervenzellen sichtbar wurden.

Lösliche Aß-Protein-Ansammlungen dieses 40 bis 42 Aminosäuren umfassenden Proteins spielen bei der Pathogenese eine große Rolle, lautet eines seiner ersten Zwischenergebnisse. Dieses passt zur sich momentan verfestigenden These, die nicht mehr die unlöslichen Plaques, sondern die löslichen Amyloid-Oligomere als Übeltäter im Verdacht hat. AFI zitiert den Göttinger Forscher und AFI-Beirat Thomas Bayer, wonach „Plaques eine Art Mülleimer für das giftige ß-Amyloid-Eiweiß sind. Man sollte zwar die Entstehung bekämpfen, aber wenn sie schon vorhanden sind, ist es therapeutisch sinnvoller, sie in Ruhe zu lassen.“

Thals Arbeitsgruppe will in künftigen Untersuchungen klären, warum Plaques nicht immer Nervenzellen schädigen, welche Aggregattypen überhaupt toxisch sind und welche Plaques auch im gesunden Hirn vorkommen. Im extrazellulären Bereich gibt es nach Thals Worten allein vier Subformen dieser senilen Plaques. Ebenso will er den Wechselwirkungen der Plaques mit den Veränderungen der Tau-Fibrillenbündel im Inneren der Hirnzellen nachspüren.

Hoffnung auf Biomarker im Liquor

Christine von Arnim, Ulmer Neurowissenschaftlerin und Leiterin der Gedächtnissprechstunde, berichtete über die Bedeutung von Biomarkern im Liquor („Nervenwasser“) für die Diagnostik demenzieller Erkrankungen wie Alzheimer. Klinische Anzeichen dieser Erkrankungen zeigten sich durch Änderungen im Liquor. Offensichtlich, so die Forscherin, sei die neuronale Integrität bei Alzheimer früh gestört, die Zusammenhänge seien aber nach wie vor unklar, desgleichen die Frage, ob die Protein-Plaques oder die Tau-Fibrillenbündel den Anfang der Krankheit markierten. Biomarker im Liquor, die auch dank Ulmer Erkenntnissen inzwischen zu den Demenz-Leitlinien gehören, eignen sich nach von Arnims Worten, um neurodegenerative Erkrankungen von Depressionen, weniger aber demenzielle Erkrankungen voneinander zu unterscheiden. Davon gibt es nach Angaben der AFI 50 unterschiedliche.

Die Ulmer Neurowissenschaftlerin hat in ihren Arbeiten grundlegende Erkenntnisse zu den zellulären und molekularen Mechanismen der APP-Prozessierung gewonnen und mit Hilfe bildgebender Verfahren Protein-Wechselwirkungen Alzheimer-relevanter Proteine in Neuronen aufgezeigt. Dabei identifizierte sie ein Sortier-Protein (GGA3) das eine Rolle beim Transport von APP spielt und möglicherweise als neuer Biomarker im Liquor in Frage kommt.

Grundlagenforschung und Klinik

Dank einer Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (WIN-Kolleg) konnte von Arnim Grundlagenforschung mit der klinischen Arbeit in der Gedächtnissprechstunde, die sie leitet, verbinden und die aus der interdisziplinären Zusammenarbeit (Neuropsychologie, Analytische Chemie) gewonnenen Erkenntnisse im Zellmodell untersuchen. Im WIN-Projekt „Neuroplastizität und Immunologie bei kognitiver Beeinträchtigung im Alter“ untersuchen die Wissenschaftlerinnen klinisch relevante sekundärpräventive Ansätze und die Rolle neuer Biomarker bei Alzheimer-Demenz.

Die Analyse der Assoziation genetischer Risikofaktoren (derzeit acht Gene, laut AFI) mit Biomarkern bei Patienten verbessert nach von Arnims Worten das Verständnis pathologischer Prozesse bei Alzheimer. Ihrer Arbeitsgruppe gelang es, in Zusammenarbeit mit Genetikern vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (Lars Bertram) in Patienten Verbindungen von genetischen Variationen mit Aß im Liquor zu identifizieren. Deren Mechanismen will von Arnim nun in der Zellkultur erforschen, um daraus gegebenenfalls neue Therapieansätze zu entwickeln.

Alzheimer-typische Veränderungen auch bei Kindern und jungen Erwachsenen

Prof. Heiko Braak wartete mit neuen Befunden auf. Unser Bild zeigt ihn mit seinem nach ihm benannten Klassifkationsschema der Alzheimer-Stadien. © Uni Ulm

Reichlich Diskussionsstoff lieferten neue Befunde des Ulmer Gastwissenschaftlers Heiko Braak. Er und seine Mitarbeiterin Kelly Del Tredici-Braak haben erstmals Alzheimer-typische Veränderungen in Gehirnen von Kindern sowie jungen Erwachsenen nachgewiesen. Das Forscherehepaar stellte bereits bei einem sechsjährigen Kind geringfügige Ablagerungen des Tau-Proteins fest. Braak hatte 42 Gehirne junger Menschen im Alter von vier bis 29 Jahren auf intra- und extrazelluläre Protein-Ablagerungen hin untersucht. Die Funde indessen, die Braak zum Anlass nahm neue Theorien zu entwickeln und etablierte in Frage zu stellen, scheinen erst einmal nur von akademischem Interesse; das ließ auch der renommierte Alzheimer-Forscher anklingen.

Immer noch erkennt man Alzheimer erst dann, „wenn die Hirnrinde hochgradig zerstört" ist, gab ein frustrierter Forscher zu Protokoll. Die Anfangsstadien liegen „im klinisch stummen Bereich". Präklinische Symptome, wie Braak sie vorstellte, lassen sich erst nach dem Tod der Patienten per Autopsie nachweisen.

Forschung auf Sicht

Einig waren sich die Alzheimer-Forscher, dass es für die in den Nervenzellen befindlichen Tau-Fibrillen weder Biomarker noch auf absehbare Zeit bildgebende Verfahren zur Diagnostik dieses Proteinklumpens bei lebenden Patienten gibt. Einen Seitenhieb wollte sich der renommierte Forscher nicht verkneifen: Er legte einen Gedanken nahe, den er ins Kleid einer rhetorische Frage steckte, ob sich die Forschergemeinde deshalb viele Jahre auf die Amyloid-beta-Proteine konzentriert habe, weil diese extrazellulären Plaques anders als die intrazellulären Tau-Fibrillen zu Lebzeiten nachweisbar seien.

Im Laufe seiner Untersuchungen stieß der Anatom bei mehr als einem Zehntel der 20- bis 30-Jährigen auf Ablagerungen des Tau-Proteins, nicht jedoch Amyloid-beta-Plaques, was Nachuntersuchungen bekräftigten. Nach Braaks Überzeugung relativiert dieser Befund die Rolle der Plaques, die oft als Hauptursache der Alzheimer Krankheit gesehen werden. Für ihre Beobachtungen untersuchten Braak und Kelly Del Tredici-Braak mehr als 2.000 Gehirne von Verstorbenen aller Altersgruppen. Bei vielen Gehirnen untersuchten sie nicht, wie üblich, nur die Hirnrinde, sondern auch den Hirnstamm. Vor allem im Locus coeruleus finden sich besonders früh neuronale Veränderungen.

Die Theorie vom infektiösen Tau-Protein

Die Tau-Pathologie von Gehirnhemisphären vom Anfangs- bis zum Endstadium © Del Tredici/Braak

Schon im autopsierten Gewebe eines Sechsjährigen fanden sich dort Tau-Ablagerungen. Dieser Bereich des Gehirnstamms steuert nach Braaks Angaben die Gehirnrinde. Das Tau-Protein, schlussfolgerte Braak, markiere im Licht dieser Befunde den Anfang von Morbus Alzheimer. Ein abnormes und daher pathogenes Tau-Protein breite Alzheimer von Neuron zu Neuron aus, sei vergleichbar einer Infektion. Die Veränderungen des Tau-Proteins beginnen bereits in der ersten Lebensdekade, postulierte Braak angesichts seiner neuen Befunde. Klinische Anzeichen wie Vergesslichkeit oder Orientierungsschwierigkeiten treten jedoch erst Jahrzehnte später auf, sagte Braak.

Der 73-jährige Neuroanatom Braak hat 1991 die nach ihm benannten „Braak-Stadien" (auch für Parkinson) entwickelt. Dieses international verwendete Klassifikationsschema teilt die typischen Veränderungen des Gehirns im Verlauf der Alzheimer Krankheit ein. Bis 2002 leitete Braak das Institut für Klinische Anatomie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seit 2009 ist er als Gastwissenschaftler im Zentrum für klinische Forschung der Universität Ulm tätig.

Publikation:

Braak, H./Del Tredici, K.: The pathological process underlying Alzheimer's disease in individuals under thirty, in: Acat Neuropathologica (2011), 121/s. 171-181, doi: 10.1007/s00401-010-0789-4)

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