Uniklinik Ulm bündelt Kräfte
Am Ulmer Uniklinikum ist das bundesweit bislang einmalige Comprehensive Infectious Diseases Center (CIDC) der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Das fächerübergreifende Zentrum, an dem sechs Institute und 16 Einzelkliniken beteiligt sind, organisiert bei Diagnose und Therapie hochkomplexer Infektionserkrankungen die Zusammenarbeit von Klinikärzten, Speziallabors und Wissenschaftlern. Das Bundesforschungsministerium (BMBF) finanziert eine fächerübergreifende Forschergruppe mit rund 1,9 Mio. Euro.
Herzstück des neuen Zentrums sind so genannte wöchentliche Infektionsboards. „In diesen fächerübergreifenden Expertentreffen besprechen wir komplizierte Fälle von Infektionskrankheiten und legen individuelle Therapien fest“, erklärte Peter Kern, Sprecher des CIDC und Leiter der Sektion Infektiologie und Klinische Immunologie am Universitätsklinikum Ulm. Ziel dieses und anderer vom BMBF geförderten Zentren ist die interdisziplinäre Verzahnung von Diagnose und Therapie unter Einbindung aktueller Ergebnisse aus Forschung und Entwicklung.
Fächerübergreifend soll das Zentrum sein, wie dieses Schaubild zeigt. (Foto: UK Ulm)
Bessere Versorgung
Den Nutzen für den Patienten beschreibt Kern so: „Aus den Therapie-Empfehlungen werden allgemeine Leitlinien für das Klinikum entwickelt, die Qualität der Versorgung wird verbessert und die Grundlage für spezielle Forschungsprojekte gelegt“. Außerdem bietet das neue Zentrum verstärkt infektiologische Spezialvisiten in den beteiligten Kliniken an.
Infektionen bedrohen immungeschwächte Kinder hochgradig
Pädiater Michael Leichsenring (Foto: UK Ulm)
Besonders wichtig sei das neue Zentrum für die Kinderheilkunde, sagte Michael Leichsenring, Sekretär des CIDC und Oberarzt der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin. Dort sind extreme Frühgeborene oder Kinder mit Krebserkrankungen während der intensiven Therapiephasen durch akut verlaufende bakterielle Infektionen oder durch Virus- und Pilzinfektionen hochgradig gefährdet.
„Da aber derartige Infektionen in ihrem Verlauf bei Kindern mit geschwächtem Immunsystem viele Besonderheiten zeigen, ist eine enge fachübergreifende Zusammenarbeit von Bakteriologen, Virologen und klinisch tätigen Ärzten eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung“, so Leichsenring.
Jedes zweite Antibiotika-Rezept ist unnötig
Die gezielte und sorgsame Behandlung von Infektionen ist heute dringlicher denn je. Denn die einstigen „Wunderwaffen“ gegen bakterielle Infektionen, die Antibiotika, drohen stumpf zu werden, weil die bakteriellen Erreger in wachsendem Maße Resistenzen ausbilden. Experten schätzen, dass jedes zweite Antibiotika-Rezept unnötig ausgestellt wird.
Experten warnen vor Pandemie
Fachleute sehen die Lage dramatisch, warnen vor einer weltweiten Pandemie (British Medical Journal 2008;337:a1438: doi:10.1136/bmj.a1438). Ohne wirksame Behandlung und Vorsorge bakterieller Infektionen seien Erfolge moderner Medizin in Chirurgie, Organtransplantation und Krebs-Chemotherapie in Gefahr. Der 2007 erstmals veröffentlichte epidemiologische Bericht des European Centre for Disease Prevention and Control sieht in antibiotikaresistenten Mikroben die größte Krankheitsgefahr für Europa.
Die Globalisierung mit immer schneller zirkulierenden Warenströmen und wachsender Reiselust führt auch dazu, dass Bakterien mitsamt ihren Resistenzgenen immer schneller und weiter um den Erdball kreisen. Sogar eine Pandemie fürchten die Fachleute („We are facing not only epidemics but pandemics of antibiotic resistance“, BMJ, ebd.).
Immer mehr Resistenz bei immer weniger neuen Medikamenten
Peter Kern ist Sprecher des neuen Zentrums. (Foto: UK Ulm)
Gleichzeitig, klagt der Ulmer Infektiologe Kern, werden immer weniger neue Antibiotika entwickelt. Das Defizit ist auf internationaler Ebene wohl bekannt: In dem Maße, wie Antibiotika ihre Wirkung verlieren, in dem Maße nimmt auch die Entwicklung neuer Substanzen in der pharmazeutischen Industrie ab, die eher an chronischen Krankheiten interessiert sei. Während in den Jahren 1930 bis 1960 mehr als ein Dutzend neue Klassen von Antibiotika entwickelt wurden, sind seither nur zwei neue entwickelt worden. In den Labors von Big Pharma beträgt der Anteil neu entwickelter Antibiotika gerade einmal 1,6 Prozent (BMJ, ebd.).
„Der exzessive Einsatz von Antibiotika begünstigt die Resistenzentwicklung, der sorgsame Umgang mit Antibiotika kann sie hingegen verzögern, sagt der Infektiologe Kern. Beispielsweise scheuen sich Ärzte bei der so genannten perioperativen Prophylaxe, die die Rate postoperativer Infektionen senken soll, Antibiotika abzusetzen - getreu dem Motto „Never change a winnig team“, obwohl eine Behandlung nicht mehr nötig sei. Diese Patienten haben ihr gesamtes bakterielles Repertoire darauf eingestellt; wenn aber eine Pneumonie hinzukomme, wirkten diese Antibiotika nicht mehr, erklärt Peter Kern.
Ludwig Maier, Direktor der Klinkikapotheke: Jeder vierte Euro wird für Antiinfektiva ausgegeben. (Foto: UK Ulm)
Am neuen Zentrum werden nach Kerns Worten „Strategien zum gezielten und sparsamen Einsatz von Antibiotika am Klinikum“ entwickelt. Das hat auch wirtschaftliche Bedeutung, erläuterte Ludwig Maier, Direktor der Klinikumsapotheke: „Wir sind in die Umsetzung der entsprechenden Leitlinien des Zentrums eingebunden und daher ein wichtiger Bestandteil im Bemühen um eine rationale und effektive Arzneimitteltherapie“. Im gesamten Ulmer Arznei-Etat machen Antiinfektiva ein Viertel der Gesamtkosten aus, so Maier.
Eine zentrale Stellung im neuen fächerübergreifenden Zentrum nimmt eine mit Bundesmitteln geförderte klinische Forschergruppe ein. Damit soll die Sektion Infektiologie und Klinische Immunologie am Uniklinikum Ulm ausgebaut werden. In momentan sechs Vorhaben sollen Infektionen von immungeschwächten Patienten erkannt, vermieden und behandelt werden.
Geschwächtes Immunsystem im Blickpunkt der Forscher
Zwei Kernprojekte haben die Immunrekonstitution, die Wiederherstellung des Immunsystems zum Ziel. In den fächerübergreifenden und eng miteinander verwobenen Projekten arbeiten Infektiologen, Internisten, Virologen und Mikrobiologen zusammen. Im Fokus der Ulmer Forscher steht das geschwächte Immunsystem von Patienten nach Stammzelltransplantation, antiretroviraler Therapie von HIV und nach der Behandlung von Autoimmunerkrankungen mit anti-TNFα (Tumornekrosefaktor) und anderen Biologicals.
Das Problem beschreibt der Infektiologe Kern am Beispiel einer HIV-Erkrankung so: Nach der Therapie und mit dem Abfall der Virus-Last kommen Erreger wieder auf, die durch den viralen Beschuss zuvor kontrolliert worden waren und die sich nach Ende der Behandlung nicht kontrollieren und begrenzen lassen. Diese Folge der geschwächten Körperabwehr trifft nach Kerns Worten beispielsweise auch Patienten, deren Knochenmark transplantiert wurde. Auch dort muss sich deren „heranreifendes Immunsystem“ anders mit zuvor vorhandenen Keimen auseinandersetzen.
Vakzine-Studie am Mausmodell
Am Mausmodell wird im Rahmen einer Phase I/II-Studie überprüft, ob sich eine Peptid-Impfung gegen das humane Zytomegalievirus (HCMV) für Patienten nach einer allogenen Stammzelltransplantation einsetzen lässt. Dieses weltweit verbreitete Virus ist für Gesunde in der Regel harmlos, Schwangeren resp. ungeborenen Kindern und Menschen mit geschwächter Körperabwehr hingegen bereitet dieses Virus aus der Familie der Herpesviren „erhebliche Probleme“.
Weiterhin analysieren die Forscher um Ulmer Uniklinikum, ob Komplikationen im Zusammenhang mit HCMV- beziehungsweise HIV-Varianten stehen. Langfristig erhoffen sich die Forscher durch die Aufdeckung immunologischer Defizite beziehungsweise durch deren Behebung eine genauere Abschätzung des Risikos bei Patienten, in deren Immunsystem wegen unterschiedlicher Therapien bakterielle oder virale Erreger reaktiviert werden.
Wenig klinische Infektiologie in deutschen Unikliniken
An deutschen Universitätskliniken ist die interdisziplinäre Infektiologie anders als im angelsächsischen Sprachraum „nicht sehr präsent“ (Kern). Am Freiburger Uniklinikum etwa wurde erst 2002 eine Abteilung eingerichtet. Auch dem Regensburger Uniklinikum gelang mit Bundesmitteln die Einrichtung einer solchen Abteilung. In vielen Ländern ist die Infektiologie ein anerkannter klinischer Schwerpunkt mit eigener Ausbildung. Erst seit kurzem gibt es in Deutschland eine Zusatzweiterbildung "Infektiologie". Anders als in der Schweiz und Österreich gibt es hierzulande noch keinen Facharzt für Infektiologie.
wp - 25.09.08
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verwendete Quellen:
Pressekonferenz Uniklinikum Ulm, 24.09.2008
Annual epidemiological report on communicable diseases in europe (https://www.gesundheitsindustrie-bw.deecdc.europa.eu/pdf/ECDC_epi_report_2007.pdf)
Otto Cars et al.: Meeting the challenge of antibiotic resistance, in: British Medical Journal 18.09.2008 (doi:10.1136/bmj.a1438)