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Wieder ein selbst entwickeltes Biological aus Biberach

Boehringer Ingelheim ist ein bedeutender Auftragshersteller für Biopharmazeutika. 2001 wurde mit Tenectplase das letzte selbst entwickelte Biotech-Präparat zugelassen. Jetzt haben USA und Europa mit Idarucizumab erneut ein Biopharmazeutikum des Pharmaunternehmens zugelassen. Ein Blick in seine Pipeline zeigt, dass sich weitere monoklonale Antikörper in späten klinischen Phasen befinden. Wir haben mit Dr. Joanne van Ryn gesprochen. Die gebürtige Kanadierin und promovierte Pharmakologin forscht seit mehr als 20 Jahren am Biberacher Standort von Boehringer Ingelheim. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Thrombose, Hämostase und Blutgerinnung. In der Forschung begleitet sie seit 2008 Dabigatran (Handelsname: Pradaxa), den oralen Gerinnungshemmer von Boehringer Ingelheim, der 2008 erstmals für eine orthopädische Indikation zugelassen wurde. Van Ryn arbeitet in der Abteilung „product and pipeline scientific support“.

Wer hatte die Idee zur Entwicklung eines Gegenmittels für Dabigatran?

Die wissenschaftliche Begleitung eines Medikaments nach seiner Zulassung macht den Besuch vieler wissenschaftlicher Kongresse erforderlich, um das Verständnis für einen Wirkstoff möglichst zu vervollständigen. Auf einem dieser Kongresse 2008 habe ich ein Poster gesehen, in dem es darum ging, einen Gerinnungshemmer gezielt zu neutralisieren.

Pradaxa ist seit 2008 auf dem Markt, Praxbind seit Kurzem. Das Gegenmittel wurde nicht gleichzeitig entwickelt, sondern danach?

An ein Gegenmittel für die neuen Gerinnungshemmer dachte niemand. Andere Gerinnungshemmer wurden ebenfalls ohne Gegenmittel zugelassen. In Studien konnte gezeigt werden, dass Dabigatran im Vergleich zu Warfarin sehr effektiv ist und ein positives Sicherheitsprofil hat. Die Daten waren so überzeugend, dass man an ein Gegenmittel nicht gedacht hat. Diese Ansicht teilen übrigens bis heute auch die Behörden.

Gab es eine medizinische Notwendigkeit zur Entwicklung eines Antidots oder woher kam die Motivation?

Dr. Joanne van Ryn hatte die Idee zum Antidot. © Boehringer Ingelheim

Man sah dafür keinen großen Bedarf. Klinische Studien zeigten uns, dass die Ergebnisse im Fall schwerer Blutungen gleich oder besser waren als die mit dem verglichenen Warfarin. Es wird immer Situationen geben, wie einen Autounfall beispielsweise, wo es einen notfallmedizinischen Bedarf gibt. Diese Fälle kommen sehr selten vor. Aber wenn sie passieren, macht ein Gegenmittel wie Praxbind das Angebot komplett.

Es ist eher eine Frage der Wahrnehmung als eine tatsächliche Notwendigkeit. Also eher eine psychologische Komponente. Es gab in der FDA eine lebhafte Diskussion darüber, dass Ärzte zögerten, neue Gerinnungshemmer zu verschreiben, obwohl die Daten besser waren als die der Vergleichssubstanz. Dazu muss man wissen, dass viele Menschen mit Vorhofflimmern nicht vor Schlaganfall geschützt sind, weil sie aus Angst vor Gerinnungshemmern solche nicht verabreicht haben wollen.

Wie wirkt Pradaxa?

Neue Gerinnungshemmer wie Pradaxa haben eine Halbwertszeit, die viel kürzer ist als bei Warfarin, das indirekt auf die Gerinnungsfaktoren wirkt. Es kann bis zu vier, fünf Tage dauern, bis der Körper wieder normale Spiegel der Gerinnungsfaktoren produziert hat. Neue Gerinnungshemmer wirken direkt, haben Halbwertszeiten von acht bis zwölf Stunden, sodass deren Wirkung nach einem Tag normalerweise sehr gering ist.

Grundsätzlich können Blutungen, die durch neue Gerinnungshemmer verursacht worden sind, genauso behandelt werden wie Blutungen unter Warfarin. Es gibt seltene Fälle, bei denen ein Gegenmittel – auch Antidot genannt – eine zusätzliche hilfreiche Therapieoption darstellen kann.

Das Mittel ist ein humanisiertes Antikörper-Fragment. Sind mit diesem kleineren Molekül Vorteile verbunden? Warum kein ganzer Antikörper und wie wirkt Praxbind?

Das Antidot, hundert Mal größer als Dabigatran, setzt dieses durch hochspezifische Bindung schachmatt. © Boehringer Ingelheim

Ein Vorteil eines Antikörperfragments ist seine viel kürzere Halbwertszeit im Vergleich zu einem monoklonalen Antikörper, der eine Halbwertszeit von Tagen, manchmal sogar Wochen hat. Wird das Gegenmittel injiziert, beträgt die initiale Halbwertszeit etwa 45 Minuten. Nach fünf Stunden sind mehr als 95 Prozent des Antidots so gut wie verschwunden. Es wirkt ganz schnell und ist ideal für Notfälle. Es wird injiziert, sodass sich seine Wirkung sofort entfalten kann. Es bindet Dabigatran innerhalb weniger Minuten, fast gleichzeitig, weil die Affinität zu Dabigatran sehr hoch ist. Die Bindung ist fast irreversibel. Sobald Dabigatran gebunden ist, wird es als Komplex ausgeschieden, und innerhalb weniger Stunden findet sich nichts mehr im Körper.

Das Antidot greift also nicht direkt in den Gerinnungsprozess ein, sondern setzt Dabigatran nur schachmatt?

Ja. Es ist ein Antikörper gegen ein chemisch synthetisiertes winziges Molekül. Das Risiko einer Off-target-Bindung ist sehr gering, weil das Antidot hochspezifisch ist. Wir haben in allen Studien keine andere Bindung als die an Dabigatran gesehen.

Zurück zur Konferenz 2008. Wie ging es dann weiter?

Für Forschung braucht man Kreativität und Freiheit – die haben wir hier. Ich kannte den Chemiker, der Dabigatran synthetisiert hat und sprach auch mit unserem Antikörper-Experten über dieses Poster. Wir machten Brainstorming und dachten uns einen Ansatz aus, wussten aber, dass wir einen Machbarkeitsnachweis für das obere Management liefern müssen. Mit einigen Antikörper-Prototypen konnten wir nach einem halben Jahr zeigen, dass unser Ansatz funktioniert. Wir präsentierten den Ansatz dem oberen Management und erhielten volle Unterstützung.

War es Zufall, dass Praxbind so schnell bindet oder haben Sie nachgeholfen?

Beides trifft zu. Wir haben natürlich möglichst viele Antikörper ‚gescreent‘, bis wir die Kandidaten gefunden haben, die sehr gut gebunden haben. Das waren murine Antikörperfragmente. Diese gaben wir unseren Spezialisten in Ridgefield (Anm. der Red.: einer von drei FuE-Standorten von Boehringer Ingelheim) zum Engineering und zur Humanisierung. Diese testeten die Kandidaten so, dass sie ihre Bindungsaffinität trotz Humanisierung behielten, und tauschten einige Aminosäuren aus, um das Risiko von Immunogenität zu minimieren. Wir hatten schon anfangs ein tolles Molekül, das mit 40 pikomolar band. Als es zurück aus Ridgefield kam, waren es 2 pikomolar.

Wäre es auch möglich gewesen, Thrombin zu hemmen?

Ja, das haben wir am Anfang auch diskutiert: ein behutsam modifiziertes Thrombin, das nicht weiter in die Gerinnungskaskade eingreift und möglicherweise Thrombose verursacht und andererseits auch noch Dabigatran bindet. Das Problem: Thrombin bindet an vielen Stellen im Körper, nicht nur an Thrombus-Erzeugern, sodass man wohl Jahre gebraucht hätte, um ein modifiziertes, neutrales Thrombin zu finden.

Boehringer Ingelheim müsste gar nicht so viel Praxbind verkaufen, oder?

Ja und Nein. Am Anfang sollte jedes Krankenhaus ausgestattet sein. Die Infusionslösung lässt sich zwei Jahre bei vier Grad Celsius lagern, was relativ lange ist. Wir hoffen, dass es jahrelang im Kühlschrank bleibt und nicht benutzt wird.

Die Entwicklung dieses biologischen Wirkstoffes geschah im Großen und Ganzen in Biberach?

Was das Molekül betrifft, ja. Auch die biopharmazeutische Produktion findet hier statt. Auch das Fill and Finish passiert hier. Natürlich sind auch Experten mit den Regularien beschäftigt, die in der Ingelheimer Zentrale sitzen. Der medizinische Leiter der klinischen Studie sitzt in Ridgefield, aber die klinische Pharmakologie in Biberach. Sie sehen daran, es war letzten Endes eine weltweite Kooperation, wobei die Haupt-FuE in Biberach erfolgte.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/wieder-ein-selbst-entwickeltes-biological-aus-biberach