Wo steht die Gentherapie in Deutschland?
Spektakuläre Erfolge oder Rückschläge hat die Gentherapie zuletzt nicht verzeichnet. Wenn sie aus den Schlagzeilen verschwunden ist, bedeutet das keineswegs, dass die Forscher in Deutschland die Hände in den Schoß gelegt haben. Die Studie „Gentherapie in Deutschland“ kommt sogar zum Ergebnis, dass die klinischen Entwicklungen auf diesem Gebiet „in jüngerer Zeit rasant vorangeschritten“ sind.
Die Studie informiert ausführlich und kritisch zum Stand der Gentherapie.
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Erstellt hat die Studie die Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Es ist ihr vierter Themenband nach Erscheinen des Ersten Deutschen Gentechnologieberichtes im Jahr 2005.
Die Umstände seines Erscheines kann ein von langer Hand vorbereitetes Vorhaben nicht beeinflussen. Dennoch tut es dem komplexen Thema gut, wenn es unbeeinflusst von Schlagzeilen der Sachkunde von Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen überantwortet wird.
Ein Ergebnis der 200-seitigen Studie ist, dass die gentherapeutische Forschung in Deutschland international konkurrenzfähig ist. Das muss als Tatsache gelesen werden, ohne daraus falsche Rückschlüsse zu ziehen. Denn ob die „Genreparatur“ den Weg aus den Forschungs- und Entwicklungslaboren in die Klinik findet, lässt die Analyse ausdrücklich offen:
Entscheidende Frage bleibt offen
„Derzeit ist nicht absehbar, wann (und ob überhaupt) somatische Gentherapie von individuellen Heilversuchen an einzelnen Patienten zu einer breiten Anwendung bei gravierenden und häufigen genetisch bedingten Krankheiten entwickelt werden kann.“ Die somatische Gentherapie bleibt nach Ansicht der Autoren „bis auf weiteres“ auf monogene Erbkrankheiten und Krebs beschränkt.
Für die Studie hat das Autorenkollektiv Experten befragt, Gutachten eingeholt und fleißig Daten gesammelt zu Studien, Forschungsaufwand, Patent-, Lizenz- und Publikationsfrequenz sowie zu den auf diesem Feld aktiven Firmen. Die Studie beschränkt sich nicht nur auf die naturwissenschaftlich-medizinischen Fakten, sondern gibt juristischen, ethischen und öffentlichen (Akzeptanz-) Belangen breiten Raum in der Darstellung.
1.400 klinische Studien
Die meisten der weltweit 1.400 klinischen Studien zur Gentherapie wurden in jüngster Zeit durchgeführt. Am aktivsten waren Forscher in den USA, in Europa und in Großbritannien. Die Zahl der Studien erscheint auf den ersten Blick hoch, meistens handelte es sich aber um einzelne Patienten. Nur wenige dieser Studien befinden sich in der für eine mögliche Zulassung relevanten dritten Phase.
Am Vektor hängt alles
Noch behilft man sich bei der Gentherapie mit den Einschleusungskünstlern. Unser Bild zeigt Adenoviren.
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Eine zentrale Aussage der Studie lässt sich in die Form einer Gleichung bringen: „Gentherapieforschung (ist) in wesentlichen Teilen Vektorforschung“. Und zwar aus triftigen Gründen. „Genfähren“ sicher und wirksam zu machen, ist nach den gescheiterten, zum Teil tödlich verlaufenen Versuchen Ende der 90er Jahren oberstes Ziel. Virale Vektoren, „entschärfte“ Viren, können wie nichtvirale Fähren im Grundsatz in alle Zellen eindringen, auch in Zellen der Keimbahn, was nach internationaler Übereinkunft auszuschließen ist.
Virale Genfähren sollen die Zell- und vor allem die Zellkernmembran durchdringen und ihre genetische Information im Erbgut der Zielzelle einbauen. Gleichzeitig sollen sich diese Fähren nicht im Gewebe ausbreiten oder Immunogenität auslösen.
Retrovirale Vektoren ungeeignet für Anwendung am Menschen
Beforscht werden mehrheitlich Retroviren einschließlich Lentiviren, Adenoviren und adenoassoziierte Viren. Für die Anwendung am Menschen scheiden nach Ansicht der Studienautoren die Retroviren als Genfähren wegen ihrer tumorerzeugenden Wirkung aus. Für den Gentransfer müssen, so die Studie weiter, unterstützende Techniken entwickelt werden. Sie sollen gentherapeutische Werkzeuge im Gleichgewicht von Wirksamkeit und Stabilität halten und die Vermehrung im Zielgewebe kontrollieren.
Das Ziel sind nichtvirale Gentaxis
In der Vektorentwicklung hält Stefan Kochanek deutsche und europäische Forscher für „sehr stark“. Der Gentherapeut am Ulmer Uniklinikum ist Vorsitzender der Sektion Vektorforschung in der Europäischen Gesellschaft für Zell- und Gentherapie. Nichtvirale Gentaxis sind auf lange Sicht das Ziel, sagt Kochanek. Noch sind Viren – diese trojanischen Pferde der Evolution – die wirkungsvollsten Zelleinschleuser. Erst wenn deren Mechanismen verstanden sind, kann sich die Wissenschaft an das Design von Gentaxis machen, die die „Schleuser“qualitäten der Viren in sichere, weil chemisch exakt bestimmte Genfähren packen.
Damit die Genpost richtig zugestellt wird
Kochaneks Team beispielsweise versucht den Zelleintritt des adenoviralen Vektors so zu verbessern, dass dieser nur bestimmte Zellen mit bestimmten Rezeptoren erreicht: Die Genpost soll richtig zugestellt werden, in den richtigen zellulären Briefkasten geworfen werden. Dazu ist nach Kochaneks Worten noch viel Grundlagenforschung erforderlich. Um unerwünschte Interaktionen des Virus mit Eiweißen im Blut oder bestimmten Zellen zu vermeiden, arbeitet das Ulmer Team an einer Art Schutzschild für das Virus, indem sie die Vektoren mit Polymeren ummanteln und damit die Chemie mit der Virologie verknüpfen.
Grundlagen und anwendungsnahe Forschung Hand in Hand
In Ulmer wie in anderen Labors gilt: Grundlagenforschung und medizinische Anwendung finden zunehmend räumlich und zeitlich parallel zueinander statt. Die molekulare Medizin verfolgt auf dem Feld der Gentherapie drei Wirkprinzipien: den gentechnischen Ersatz defekter Gene, die Zerstörung „kranker“ Zellen und Gewebe und die Einführung gentechnisch veränderter Zellen beispielsweise als Ersatz nicht mehr funktionsfähiger Zellen.
Skepsis wegen unklarer Daten
Dass seit 2003 in China ein gentherapeutisches Krebsmittel (Gendicine®) „mehrtausendfach angewendet“ wurde, verschweigt die Studie nicht, genauso wenig, dass die internationale Fachwelt immer noch auf dessen vollständige Therapieprotokolle wartet. Von Routine-Anwendung könne keine Rede sein, relativieren die Autoren.
Gentherapeutische Forschung vor allem in Onkologie
Ob es sich um seltene monogene Erkrankungen wie ADA-SCID, Chronische Granulomatose oder das Wiskott-Aldrich-Syndrom handelt, oder um Krebserkrankungen – die gentherapeutischen Studien befinden sich alle noch in einem frühen Stadium. In der Onkologie, die in Deutschland drei Viertel aller Studien ausmacht, repariert die Gentherapie nicht defekte Gene, sondern hat als Ziel die Zerstörung der Tumorzellen im Auge.
Gendoping muss stärker diskutiert werden
Immer öfter diskutiert wird im Zusammenhang mit Gendoping das sogenannte genetische Enhancement, das man vielleicht mit Nachbesserung übersetzen könnte und das gelegentlich als „neue Eugenik“ bezeichnet wird. Der Hinweis der Autoren, dass solches Enhancement außerhalb der Genetik wie in Schönheitschirurgie und Neuropharmakologie von der Gesellschaft teilweise akzeptiert wird, kommt wohl nicht von ungefähr und lässt eine Diskussion dieser ethisch fragwürdigen Option erwarten.
Leicht positive Einschätzung bei diffusem Meinungsbild
Im Grundsatz steht die Mehrheit der Bevölkerung der somatischen Gentherapie positiv gegenüber. Als Gründe werden der vermutete Nutzen und das „euphorische Heilsversprechen der Wissenschaft“ angeführt. Immer noch aber gibt es wenige Daten, auf die sich Ethikkommissionen und Zulassungsbehörden stützen können, wenn über klinische Studien befunden werden soll. Ethisch annehmbar ist nach heutigem Stand die Gentherapie nur bei sehr schweren oder lebensbedrohenden Erkrankungen, die mit anderen Methoden nicht zu behandeln sind.
Anders als die grüne Gentechnik polarisiert die Gentherapie nicht, was aber nicht bedeutet, dass man von Nutzen und ethischer wie praktischer Unbedenklichkeit überzeugt wäre. Das eher diffuse Meinungsbild könnte sich durch Erfolg oder Misserfolg schnell ändern, schreiben die Autoren zu Recht.
Kombination mit anderen Therapien
Nach den Rückschlägen in den 90er Jahren konzentriert sich die somatische Gentherapie auf die Entwicklung wirkungsvoller und sicherer Gentaxis. Damit stimuliert sie auch die molekular- und zellbiologische Grundlagenforschung.
Viel versprechender präklinischer Daten zum Trotz hat sich bislang kein Ansatz durchgesetzt oder gar herkömmliche Tumortherapien ersetzt. „Hingegen scheint die Kombination von gentherapeutischen mit anderen experimentellen oder etablierten konventionellen Therapien ein sinnvoller und zukunftsweisender Weg zu sein“, bilanziert die Studie.
Studie fordert Verbot von Gendoping
Ein Verbot von Gendoping und (nicht medizinisch indiziertem) genetischem Enhancement muss her, fordert die Studie. Die Risiken seien unübersehbar und derzeit nicht kontrollierbar. Die national wie international geächtete Keimbahntherapie verbiete auch zukünftig jegliche Ansätze in dieser Richtung.
Angesichts der schwierigen Abgrenzung (Grauzone zwischen Prävention, Reha und Enhancement bzw. Doping) muss nach Ansicht der Studienautoren die ethische Reflexion verstärkt werden. Der Trend zur körperlichen und psychischen Leistungsmanipulation mithilfe von Arzneimitteln – „Alltagsdoping“ oder „Enhancement“ - sei hochaktuell.
Öffentliche Hand weiterhin gefordert zu fördern
Deutsche Forschung bleibt nur dann international konkurrenzfähig, wenn sie von der öffentliche Hand weiter gefördert wird und „das Vertrauen der Industrie“ zurückgewinnt. Fährt die Industrie ihre marginalen Aktivitäten auf diesem Feld weiter zurück und werden "translationale Strukturen“ nicht weiter von der Öffentlichen Hand finanziert, „droht der „Verlust der Infrastruktur, die für klinische Studien sowie für die Entwicklung gentherapeutischer Produkte und Verfahren notwendig ist“, lautet die Handlungsempfehlung der Studie. Im aktuellen Forschungsrahmenprogramm der EU hat der Ulmer Forscher Stefan Kochanek bereits deutlich weniger Projekte registriert als in den vorherigen.
Fazit: Eine fakten- und materialreiche Studie zum Stand der Gentherapie in Deutschland, ausgewogen in der Darstellung, deutlich in den Handlungsempfehlungen. Wichtig ist der Hinweis, das Thema Gendoping breiter zu diskutieren. Das deutsche Parlament immerhin hat schon einen Anfang gemacht.
Die Studie:
Ferdinand Hucho, Bernd Müller-Röber, Silke Domasch, Mathias Boysen: Gentherapie in Deutschland. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Themenband des Gentechnologieberichts (Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppen, Band 21, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Dornburg 2008, 212 Seiten, ISBN: 978-3-940647-02-3