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Zentrum für seltene Erkrankungen in Tübingen gegründet

Der 22. Januar war der offizielle Start für das bundesweit erste Behandlungs- und Forschungszentrum für seltene Erkrankungen, kurz ZSE. Unter seinem Dach entwickeln interdisziplinäre Teams neue Therapien für die drei bis vier Millionen Patienten, die in Deutschland an einer seltenen Krankheit leiden. Das Tübinger Zentrum soll für eine optimale Betreuung der Patienten sorgen, die Zusammenarbeit internationaler Spezialisten koordinieren, kompetent beraten und informieren. Außerdem werden eine zentrale Biomaterialbank und ein Register aufgebaut.

Menschen mit seltenen Krankheiten leiden oft doppelt: an ihrer Erkrankung und daran, dass diese kaum jemand kennt. Die Patienten und ihre Angehörigen durchleben oft eine Odyssee von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik, ohne dass ihnen adäquat geholfen werden kann. Die Betroffenen berichten von Fehldiagnosen und falschen Behandlungen, ratlosen Ärzten und nicht zuletzt von mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz des vermeintlich „exotischen“ Leidens. Hinzu kommt, dass es häufig an geeigneten Medikamenten fehlt – die Patientenzahl ist vielfach zu gering, um eine Pharmafirma zu motivieren, in die teure Entwicklung eines speziellen Wirkstoffs zu investieren.

Wobei alle seltenen Erkrankungen zusammen alles andere als selten sind, wie Dr. Jörg Richstein, Vorstand der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) auf der Gründungsveranstaltung des ZSE betonte. „Die seltenen Erkrankungen bilden in ihrer Gesamtheit auch eine Volkskrankheit“, so Richstein. Nach der in Europa gültigen Definition gilt eine Krankheit als selten, wenn weniger als eine von 2.000 Personen unter einem spezifischen Krankheitsbild leidet. Prof. Dr. Olaf Riess ist Direktor der Abteilung Medizinische Genetik am Universitätsklinikum Tübingen (UKT) und Sprecher des neuen Zentrums. Er nannte weitere Zahlen: „Momentan zählen wir weltweit etwa 8.000 seltene Krankheiten. Allein in Deutschland gibt es rund vier Millionen Menschen, die davon betroffen sind.“

Jeder 20. Deutsche hat eine seltene Krankheit

Urkundenübergabe bei der Gründungsveranstaltung des Zentrums für Seltene Erkrankungen © Uniklinikum Tübingen

Riess sprach von den Defiziten im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten und fasste zusammen, dass es eine qualitative und quantitative Unterversorgung in Deutschland gebe, die zu einem verzögerten Zugang zur Behandlung für die Patienten führe. Entsprechend positiv wurde die ZSE-Gründung von allen Rednern bewertet, darunter Wolfgang Zöller, der Patientenbeauftragte der Bundesregierung und Klaus Tappeser, Ministerialdirektor des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden Württemberg. Das erste Grußwort sprach Eva Luise Köhler, die Gattin des Bundespräsidenten und Schirmherrin der ACHSE. Sie bezeichnete das Tübinger ZSE-Konzept als wegweisend und wertete das Zentrum als Aufbruch, weil hier eine umfassende Betreuung geschaffen, zudem Forschung geleistet und eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung erzielt werden soll.

Tübingen bietet mit seinen bereits bestehenden Strukturen ideale Voraussetzungen für die Gründung eines übergeordneten Zentrums. Am UKT gibt es bereits sechs Zentren für seltene Erkrankungen auf speziellen Gebieten der Medizin. Als Sub-Zentren werden sie jetzt in das ZSE eingebunden. Weitere Zentren sollen noch integriert werden beziehungsweise befinden sich in Gründung. Vertreter aller sechs bestehenden Zentren stellten ihre Ziele und Aktivitäten vor und machten anhand von Beispielen den dringenden Handlungsbedarf deutlich.

Organisation Zentrum für Seltene Erkrankungen Tübingen © Uniklinikum Tübingen

Translational und transnational forschen

So unterschiedlich die seltenen Krankheiten auch sind, gibt es doch Gemeinsamkeiten. So handelt es sich häufig um schwere Krankheiten und die häufigste Ursache sind Gendefekte. Darunter sind auch Krankheiten, die – obwohl selten – ihrer auffälligen Symptome wegen bekannt sind, zum Beispiel Chorea Huntington, früher auch Veitstanz genannt. Tübingen ist weltweit führend bei der Entwicklung von Modellen für diese Krankheit. Ein anderes Beispiel ist Mukoviszidose. Der zugrunde liegende Gendefekt wurde erst 1989 entdeckt. Die durchschnittliche Lebenserwartung konnte durch intensive Forschungsarbeit in den letzten 30 Jahren von 18 Lebensjahren auf 40 gesteigert werden. Jetzt ist es das erklärte Ziel des ZSE, durch fokussierte Grundlagenforschung und Durchführung klinischer Studien die Lebenserwartung auf 60 Jahre zu steigern.

Gruppenbild Gründungsveranstaltung des Zentrums für Seltene Erkrankungen am 22.1.20101. Reihe v.l.n.r: Prof. Dr. Eberhart Zrenner (Ärztlicher Direktor Forschungsinstitut für Augenheilkunde Tübingen), Prof. Dr. Michael Bamberg (Lt. Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender Universitätsklinikum Tübingen), Eva Luise Köhler (Gattin des Bundespräsidenten), Prof. Dr. Olaf Rieß (Sprecher des ZSE-Tübingen), Prof. Dr. Ingo B. Autenrieth (Dekan der Medizinischen Fakultät Tübingen). 2. Reihe v.l.n.r: Prof. Dr. Ludger Schöls (Stellv. Sprecher des ZSE-Tübingen), Dr. Jörg Richstein ( ACHSE-Vorstandsmitglied), Wolfgang Zöller (Patientenbeauftragter der Bundesregierung), Klaus Tappeser, (Ministerialdirektor des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg). © Universitätsklinikum Tübingen

Gebündelte Forschungsaktivitäten sollen für einen schnellen Wissenstransfer in die klinische Anwendung sorgen. Die translationale Forschungskompetenz ist eine der Stärken des neuen ZSE. Hinzu kommt der Ausbau bereits bestehender Netzwerke über Ländergrenzen hinweg. Eine Ausweitung der transnationalen Forschung ist schon allein deshalb geboten, weil bei vielen seltenen Krankheiten nur so genügend Patientendaten für statistisch abgesicherte Ergebnisse gesammelt werden können. Der internationale Austausch mit Wissenschaftlern und Ärzten wird im Rahmen des ZSE auch in der Aus- und Weiterbildung verstärkt. Mit Selbsthilfegruppen soll ebenfalls eng zusammen gearbeitet werden, auch im Sinne einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit.

Nutzen geht weit über einzelne Therapien hinaus

Prof. Dr. Herbert Müther, Prorektor der Uni Tübingen, unterstrich in seinem Grußwort, dass seltene Krankheiten in Zukunft nicht isoliert untersucht, sondern in ein gemeinsames Umfeld gestellt werden. Er wies darauf hin, dass es oft Randerscheinungen waren, die zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin führten. Damit schlug er den Bogen zu einem allgemeinen Nutzen der Erforschung seltener Krankheiten für die gesamte Medizin. Ein politisches Argument führte Prof. Dr. Michael Bamberg, leitender Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des UKT, ins Feld. Mit der Gründung des ZSE werde auch ein Beschluss der EU umgesetzt, bis Ende 2013 nationale Pläne für seltene Krankheiten zu realisieren, so Bamberg.

Prof. Dr. Ingo Autenrieth, Dekan der Medizinischen Fakultät, übergab abschließend die Gründungsurkunde und sorgte für eine äußerst willkommene Überraschung, als er die Übergabe mit einer Initialfinanzierung von 100.000 Euro durch die Uni und das Klinikum verknüpfte. Das Geld soll zunächst in den Strukturaufbau investiert werden. Autenrieth betonte, wie wichtig strukturierte Prozesse seien, um die Vorhaben umsetzen zu können. Eingangs hatte er bereits darauf hingewiesen, dass auch umfassende Maßnahmen zur Qualitätssicherung implementiert würden, um die beste Diagnostik und Therapie sowie präventive Maßnahmen zu sichern.

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