Zur physiologischen Bedeutung des Alzheimer-Proteins
Während die Rolle des Amyloid Precursor Proteins (APP) bei der Entstehung der Amyloidplaques bei der Alzheimer-Krankheit bekannt ist, war die physiologische Funktion dieses Membranproteins im Gehirn rätselhaft. An Mausmodellen hat die Heidelberger Molekularbiologin Professor Dr. Ulrike Müller gezeigt, dass Komponenten der APP-Genfamilie eine wichtige Rolle für die synaptische Plastizität und die Lern- und Gedächtnisleistungen spielen.
Prof. Dr. Ulrike Müller
© Privat
Die unlöslichen Proteinablagerungen, sogenannte Amyloid-Plaques, die man im Gehirn von Alzheimer-Patienten finden kann, bestehen hauptsächlich aus zusammengeklumpten Proteinfragmenten von 39 bis 43 Aminosäuren Länge, dem sogenannten β-Amyloidpeptid (Aβ-Peptid). Es entsteht durch enzymatische Spaltung aus einem großen Protein in den Membranen der Nervenzellen, dem Amyloid-Vorläufer-Protein oder APP („Amyloid Precursor Protein"). In einer als β-Prozessierung bezeichneten Reaktionskaskade wird APP zunächst durch eine β-Sekretase gespalten, wobei ein großes lösliches Fragment, das sAPPβ („soluble APPβ") in den Extrazellulärraum freigesetzt wird. Das in der Nervenzellmembran verbliebene Reststück wird anschließend durch den ebenfalls in der Membran lokalisierten Proteinkomplex der γ-Sekretase gespalten. Dabei wird das Aβ-Peptid freigesetzt, das sich extrazellulär als Plaques ablagert, die Kommunikation zwischen den Nervenzellen behindert und die Nervenzellen selbst schließlich zum Absterben bringt. Dieser Prozess gilt als eine der Hauptursachen der Alzheimer-Demenz.
Die Funktion des APP in der Alzheimer-Pathogenese ist intensiv erforscht worden. Seine zentrale Rolle zeigt sich auch bei familiären (erblich bedingten) Formen der Alzheimer-Krankheit, die mit Mutationen innerhalb des APP-Gens einhergehen. Die normale physiologische Rolle von APP blieb jedoch weitgehend rätselhaft, obwohl es sich um ein häufiges Membranprotein in Nervenzellen (und auch anderen Zelltypen) handelt - vom Fadenwurm C. elegans bis hin zum Menschen. Für das Modellsystem der Maus hat die Heidelberger Molekularbiologin Professor Dr. Ulrike Müller neue Befunde publiziert, die zur Lösung dieses Rätsels beitragen können. Sie ist Leiterin der Abteilung Funktionelle Genomik am Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg. Bereits 2008 hatte sie für ihre Arbeiten den Alzheimer-Forschungspreis gewonnen (s. auch "Alzheimer Forschungspreis an Ulrike Müller").
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Amyloidogene (β) und nicht-amyloidogene (α) Prozessierung von APP
© Alzheimer-Forum
Neben der beschriebenen pathogenetisch wichtigen β-Prozessierung (oder amyloidogenen Prozessierung) gibt es noch einen alternativen, nicht-amyloidogenen APP-Metabolismus. Bei der sogenannten α-Prozessierung schneidet ein anderes Enzym, die α-Sekretase, das APP innerhalb der Aβ-Domäne, wobei ebenfalls ein großes lösliches Fragment, das sAPPα, in den Extrazellulärraum abgegeben wird. Bei der anschließenden Spaltung des membranständigen Restfragments von APP entsteht aber kein (potenziell neurotoxisches) Aβ-Peptid. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Neuroscience Centers des Universitätsklinikums Frankfurt/Main konnten Ulrike Müller und ihre Mitarbeiter zeigen, dass APPα schützende und wachstumsfördernde Eigenschaften für Nervenzellen besitzt. Prof. Müller ist Sprecherin eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Transregio-Forschungsprojektes „Physiologische Funktionen der APP-Genfamilie im zentralen Nervensystem“, an dem sieben Wissenschaftlerteams der Universitäten Heidelberg, Frankfurt und Mainz sowie der Technischen Universitäten Kaiserslautern und Braunschweig beteiligt sind.
Maus-Modelle
Der Suche nach physiologischen Funktionen von APP gingen die Forscher in Tiermodellen nach. Sie generierten APP-Knockout-Mäuse mit Hilfe von embryonalen Stammzellen, in denen das APP-Gen durch homologe Rekombination inaktiviert worden war. Derartige APP-defiziente Mäuse waren in ihrem Wachstum verlangsamt, neigten zu epileptischen Krämpfen und zeigten auch sonst einige Defekte und Verhaltensstörungen; bei einem so häufigen und weit verbreiteten und im Verlauf der Evolution offenbar hoch konservierten Protein waren das aber eher geringe Mängel. Dieser überraschende Befund erklärt sich damit, dass der Verlust von APP durch homologe Proteine aus der gleichen Genfamilie funktionell teilweise kompensiert wird.
Chimäre Maus aus dem Labor von Prof. Ulrike Müller.
© IPMB, Universität Heidelberg
In der Maus und im Menschen kommen dafür vor allem zwei eng miteinander verwandte Proteine in Frage, die als „APP-like Proteins" (APLP1 und APLP2) bezeichnet werden. Daher wurden die Forschungen auf APLP-Knockout-Mäuse ausgeweitet und darüber hinaus auch auf Doppel- und Dreifachmutanten in verschiedenen Kombinationen, die durch Kreuzungen der verschiedenen Einzelmutanten erzielt wurden. Mäuse, denen zwei oder alle drei Proteine der APP-Genfamilie fehlen, sterben kurz nach der Geburt. Sie zeigen Fehlbildungen in der Gehirnstruktur, die darauf zurückzuführen sind, dass die Zell-Zell-Kontakte und die Verbindung mit der extrazellulären Matrix im Nervengewebe vermindert waren. Die Lethalität ist bedingt durch Störungen der Nervenreizleitung zwischen Motorneuronen und Muskelzellen.
Durch Einbringen eines Stopp-Kodons in das APP-Gen konnten Ulrike Müller und ihr Team eine Mausmutante gewinnen, die anstatt des vollständigen APP-Proteins nur die lösliche Komponente sAPPα exprimierte. Damit ließ sich die Funktion von sAPPα während der Entwicklung des Tieres untersuchen. Es zeigte sich, dass diese Komponente allein ausreichte, um Defizite durch APP-Mangel zu kompensieren. In ihrer neuen Publikation (Weyer et al., 2011) beschreiben die Heidelberger Forscher, wie sie die sAPPα-Mutante mit einem APLP2-Knockout kombinierten. Die Ergebnisse zeigen nicht nur, dass die APP-Genfamilie für die physiologischen Funktionen der Nervenzellen wichtig ist, sondern weisen auch auf Verbindungen zwischen Störungen in der APP-Prozessierung und dem Verlust der Gedächtnisleistung bei der Alzheimer-Demenz hin.
Synaptische Plastizität
Es besteht ein synergistischer Zusammenhang in den Funktionen von sAPPα und sAPLP2α bei der Bildung und Aufrechterhaltung synaptischer Verbindungen zwischen den Nervenzellen, der Reifung der synaptischen Strukturen und der Freisetzung von Transmittermolekülen. Das ließ sich auch mit mikroskopischen Methoden an den Synapsen zwischen Motoneuronen und Muskelzellen zeigen. Der Prozess der Stärkung bzw. Schwächung synaptischer Kontakte, die sogenannte synaptische Plastizität, ist jedoch vor allem als ein zentraler Mechanismus bei Lernprozessen erkannt worden, dessen Schädigung zum Verlust der Gedächtnisleistung führt, wie er so eindrücklich und tragisch für die Alzheimer-Krankheit charakteristisch ist. Für die als „Langzeitpotenzierung“ bezeichnete Verstärkung aktiver Synapsen im Lernprozess ist das Zusammenwirken von sAPPα und sAPLP2α von essenzieller Bedeutung, wie Ulrike Müller in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der TU Braunschweig (Prof. Martin Korte) zeigen konnte.
Studien haben gezeigt, dass die Demenz von Alzheimer-Patienten mit einer geringeren Konzentration an sAPPα in der Gehirnflüssigkeit assoziiert ist, und auch die Aktivität der α-Sekretase – des Enzyms, das sAPPα aus APP freisetzt – verringert sich mit fortschreitender Demenz. Zusammen mit den Forschungsergebnissen von Ulrike Müller legen diese Befunde nahe, dass man sich bei der Suche nach neuen Therapien für die bislang unheilbare Alzheimer-Krankheit auf sAPPα konzentriert, die in den Extrazellulärraum sezernierte Domäne des Alzheimer-Schlüsselproteins APP, die für die synaptische Plastizität und die Lern- und Gedächtnisleistungen eine wesentliche Rolle spielt.
Publikationen:
Weyer SW, Klevanski M, Delekatge A, Voikar V, Aydin D, Hick M, Filippov M, Drost N, Schaller KL, Saar M, Vogt MA, Gass P, Samata A, Jäschke A, Korte M, Wolfer DP, Caldwell JH, Müller UC: APP and APLP2 are essential at PNS and CNS synapses for transmission, spatial learning and LTP. EMBO J. 2011 Jun 1;30(11): 2266-80.
Tschäpe J-A, Müller UC: Funktionen jenseits der Plaquebildung. Genomexpress 1.12, Mai 2012: 19-20.