Zwölf auf einen Streich - Neue Gene für Diabetes Typ 2
Zwölf neue Diabetes-Gene hat ein internationales Forscherkonsortium in einer Meta-Analyse von rund 140.000 Europäern identifiziert. Einer der Autoren, der Ulmer Endokrinologe Bernhard Böhm, bewertet die Erkenntnisse als Durchbruch für Forschung und Klinik der Volkskrankheit Diabetes Typ 2. Die rund ein Jahr alten Ergebnisse sind jetzt im Wissenschaftsjournal Nature Genetics zum Kongress der US-Diabetes-Gesellschaft veröffentlicht worden. Böhm kündigt unterdessen weitere Diabetes-Gene zu den jetzt 38 bekannten an. Mit Kollegen aus Oxford arbeitet Böhm gerade Subtypen der Krankheit heraus, sich sehr früh manifestierende Diabetes-Formen.
Zur Aufklärung der genetischen Ursachen von Typ-2-Diabetes trugen Dutzende Forscher aus den USA, Großbritannien, Island und acht weiteren Ländern bei. Aus Deutschland waren in dem Forscherverbund neben Böhms Team auch Wissenschaftler des Münchener Helmholtzzentrums und des Düsseldorfer Diabetes-Zentrums beteiligt. Fördermittel wurden durch das Land Baden-Württemberg (Exzellenzzentrum Stoffwechselkrankheiten) und den National Instituts of Health der Vereinigten Staaten von Amerika bewilligt.
Erst die große Zahl schafft Verlässlichkeit
Der Ulmer Diabetesforscher Prof. Bernhard Böhm.
© UK Ulm
Die neu entdeckten Diabetes-Gene spielen eine wichtige Rolle in der Funktion der Insulin produzierenden Beta-Zellen, die den Blutzucker kontrollieren. Des Weiteren fanden die Forscher Genvarianten, die das Zellwachstum kontrollieren. Einzeln tragen die zwölf Gene wenig zur Vorhersage des individuellen Risikos bei, kombiniert jedoch lässt sich nach Böhms Worten die „Vorhersagewahrscheinlichkeit insbesondere für Menschen mit einem sehr früh festgestellten Typ-2-Diabetes erstmals erheblich erhöhen“.
Die neu entdeckten T2D-Genvarianten finden sich auf folgenden Genloci: BCL11A (Chromosom 2), ZBED3 (Chromosom 5), KLF14 (Chromosom 7), TP53INP1 (Chromosom 8), CHCHD9 (Chromosom 9), KCNQ1 (Chromosom 10, zwei Signale), CENTD2 (Chromosom 11); HGMG2 und HNF1A (beide auf Chromosom 12), ZFAND6 und PRC1 (beide auf Chromosom 15) sowie DUSP9 (X-Chromosom).
Die Meta-Analyse untersuchte acht Diabetes-Studien. Da Diabetes eine polygene Krankheit ist, muss man das große Zahlenrad drehen. Einige tausend Daten auszuwerten, reicht nach Böhms Worten nicht aus für statistische Relevanz. Mit der jetzt veröffentlichten Meta-Analyse habe man Zahlen, die „statistisch auf stabilere Beine gestellt“ sind. Unterdessen kündigte der Ulmer Diabetes-Forscher schon weitere neue Genvarianten für Diabetes an. In einem sogenannten „Deep sequenzing“ untersucht Böhms Team bestimmte Genregionen direkt per Sequenzierung.
Ein Wirkstoff für alle – Ein Pharma-Ansatz überholt sich
Eine Einschränkung haben die gewonnenen Erkenntnisse der Diagram+ genannten Meta-Analyse: Sie gelten nur für Europäer. In Asien, erläutert Böhm, sind bereits ähnliche Untersuchungen gelaufen, die Unterschiede gezeigt haben. Danach besitzen bestimmte Risikoprofile, die für Europäer gelten, für Asiaten keine Gültigkeit. Das wirke sich auf die Medikation aus, denn bestimmte Diabetes-Medikamente wirken bei asiatischen Diabetes-Kranken nicht.
Hier ließe sich von einer nach Kontinenten abgestuften individualisierten medikamentösen Therapie sprechen. Diese Erkenntnis werde nach Böhms Worten von der Pharma-Industrie noch zu wenig berücksichtigt, die immer noch einen Wirkstoff für alle Patienten vorsehe. Tatsächlich bilden sich nach genetischer Lehrmeinung, so Böhm weiter, Nahrungs- und Heilmittel (Umwelt-Gen-Interaktion) jeweils individualisiert aus. Diese neue Erkenntnis berücksichtige die moderne Pharmakotherapie in wachsendem Maße.
Überrascht hat die Forscher ein mit Diabetes assoziiertes Gen auf dem X-Chromososom. Dieser Fund könnte erste Hinweise auf eine mögliche geschlechtsabhängige Diabetes-Häufigkeit geben. Böhm hält es für gut vorstellbar, dass abhängig von der x-chromosomalen Inaktivierung sich bei Frauen das Phänomen anders darstellt. Männer haben tatsächlich häufiger Diabetes. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Häufigkeit der Erkrankung arbeiten momentan englische Forscher heraus.
Noch bemerkenswerter ist nach Böhms Worten der neue Genort KCNQ1, der zuvor schon bekannt war für eine ganz seltene Diabetes-Variante. Offenbar, so Böhm, ist von diesem seltenen auch in der allgemeinen Variante etwas enthalten. Das befeuert die nach Böhm spannende Diskussion, ob diese seltenen Varianten nicht doch eine viel größere Bedeutung für die Krankheit als Ganzes haben.
Nicht nur die Forschergemeinde profitiert von den neuen Erkenntnissen, sondern auch Patienten. Inzwischen haben Böhms Kollegen von der Harvard Medical School und der dortigen Schule für Epidemiologie erstmals ein Modell zur Vorhersagbarkeit erstellt auf der Grundlage dieses Blumenstraußes von Genen. Damit ist es nach Böhms Worten erstmals möglich, die unterschiedliche Wirksamkeit von Diabetes-Medikamenten vorherzusagen und damit den Patienten die damit verbundenen Nebenwirkungen zu ersparen.
Dieser Strauß neu identifizierter Gene, wie ihn Böhm umschreibt, lässt sich in Gruppen einteilen: in Gene, die in direktem Zusammenhang mit der Inselzellkapazität stehen, in Gene, welche die Insulinwirkung im Gewebe beschreiben, und schließlich in Gene, die das Zellwachstum beschreiben und damit auch die Prädisposition für bestimmte Tumorerkrankungen erhöhen. Möglicherweise, so hofft Böhm, lässt sich daraus in weitaus größerem Maße die Therapie individualisieren.
Neues Verständnis der Pathogenese bricht sich Bahn
Diagram+ und Böhms eigene noch unveröffentlichte Arbeiten beginnen am herkömmlichen Verständnis der Volkskrankheit zu rütteln. „Immer klarer wird, dass das Dominante das Leben und Überleben und das Funktionieren der Insulin produzierenden Zellen ist. Das ändert konzeptuell ganz erheblich die Vorstellung von der Art der Krankheit und auch die Vorstellung, wie man in Zukunft therapieren muss.“ Bisher sei die Therapie auf Leistungssteigerung der Betazellen ausgerichtet gewesen. Jetzt wisse man mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Betazellen sich regenerieren sollten und bessere Fitness durch Signale wie Ernährung und kombiniert mit neuen Medikamenten entwickeln sollten, sagt der Ulmer Diabetes-Forscher.
Genanalyse von der Stange?
Die zwölf neu identifizierten Diabetes-Gene sind auch mit weiteren Krankheiten verbunden, mit kardiovaskulären und mit bösartigen (Tumor-) Krankheiten. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Risikogene für Prostatakarzinom schützen vor Diabetes Typ 2. Die Veranlagung für Diabetes Typ 2 wird vererbt, dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Krankheit multifaktoriell bedingt ist. Da die Genom-Sequenzierung immer kostengünstiger wird, könnte sie sich nach Böhms Worten auch hierzulande wie in den USA durchsetzen, wo sich die Mehrheit mit Genanalysen und ihrer Sequenzierung begnügt, auf eine qualifizierte genetische Beratung verzichtet.
Ein Durchbruch, der tatsächlich einer ist
Nicht nur der Ulmer Diabetes-Forscher hält die jüngst veröffentlichten Erkenntnisse für einen „Durchbruch“. Andernorts dominiert dieselbe Einschätzung, die nach Böhms Worten nur durch die Geschichte der Diabetes-Genetik verständlich wird. Denn das geflügelte Wort des Genetikers James Neel („Diabetes is a nightmare“) sei nicht länger gültig. Mittlerweile sind die genetischen Grundlagen der Zuckerkrankheit gut bekannt, doch diesem „schmerzhaften Prozess“ (Böhm) hätten erst vor wenigen Jahren isländische Forscher ein Ende bereitet. Diese hatten einen Transkriptionsfaktor entdeckt, den die Fachwelt reproduzieren konnte. Genau das war Forschergruppen bislang bei allen Diabetes-Genen zuvor misslungen. Auch die Therapie lässt sich durch die immer genauere Subtypisierung rationeller als zuvor gestalten. „Für eine Volkskrankheit ist das allemal ein Durchbruch“, sagt Böhm und verweist auf das gegenteilige Beispiel einer anderen Volkskrankheit, Hypertonie.