Das Virus und wir
Die Schweinegrippe vor einem Jahr beunruhigte die Nation: Gesundheitsbehörden warnten vor einer Pandemie und die Menschen stenden Schlange für die Impfung. War alles unnötige Panikmache? Die Experten sind sich einig: Jedes Virus birgt eine Gefahr, die Auswirkungen sind jedoch schwer vorherzusagen.
Bei der Schweinegrippe haben sich die Experten gründlich getäuscht: Das Virus ist zwar von Mensch zu Mensch übertragbar, aber die Auswirkungen waren lange nicht so schlimm wie befürchtet
© Novartis Vaccines
Was wurde für ein Aufhebens gemacht um die Schweinegrippe vor einem Jahr. Gesundheitsbehörden warnten vor einer Pandemie mit Zigtausenden schwer Erkrankter, große Mengen Impfstoff wurden gekauft und eingelagert, in den Hausarztpraxen standen die Menschen Schlange für die Impfung.
Und passiert ist: nix bis wenig. Die Kritiker standen schnell bereit. Verschwendung von Steuergeldern, völlig übertriebenes Krisenmanagement, unnötige Panikmache. Die meisten Experten sind sich einig: Die Entwicklung konnte man nicht genau vorhersehen.
„Influenza-Viren sind schon ernstzunehmen“, sagt Michael Pfleiderer vom Paul-Ehrlich-Institut, das für die Impfstoffe in der Bundesrepublik zuständig ist. Im 20. Jahrhundert gab es Epidemien mit teils hunderttausenden von Toten. Bei späteren Epidemien starben weniger Menschen – ob durch den medizinischen Fortschritt oder durch die zunehmenden Impfungen, darüber streiten sich die Experten.
Wie aggressiv ein Virus sich verhält, ist schwer vorherzusagen. Grippe-Viren gehören zu den sogenannten RNA-Viren, deren Reparaturmechanismus schlecht ausgebildet ist. Dadurch entstehen ständig Fehler und immer wieder neue Varianten, die die menschliche Immunabwehr nicht erkennt. Oft tauschen sich Viren sogar untereinander aus. Schweine etwa dienen als so genanntes „Mischgefäß“. In ihren Zellen gibt es Rezeptoren für ganz unterschiedliche Virentypen. Diese können sich dann neu gruppieren – zu neuen, möglicherweise gefährlichen Typen. „Das haben wir bislang zu wenig im Blick gehabt“, sagt Stephan Ludwig von der Universität Münster.
Die Wissenschaft versucht, bei den Viren und ihrem rasanten Wechselspiel am Ball zu bleiben. Rund um die Welt spannt sich das Netz der Weltgesundheitsorganisation WHO, die überall die Grippe-Fälle beobachten und Virenstämme isolieren lässt. Zeigt sich einer besonders aggressiv, gibt es Alarm und ein Impfstoff wird hergestellt.
Doch bei der Schweinegrippe haben sich die Experten gründlich getäuscht. Das Virus ist zwar von Mensch zu Mensch übertragbar, zeigte sich aber relativ zahm. Offenbar waren viele Menschen dagegen immun, vermutet Pfleiderer. Andere Länder – etwa Polen – hätten nichts bis wenig zum Schutz ihrer Bevölkerung unternommen, sagt Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut. Bei einem aggressiveren Virus hätte es ernst werden können.
Anfangs seien besonders junge Erwachsene erkrankt, was eher ungewöhnlich ist, sagt Elke Reinking vom Friedrich-Löffler-Institut für Tiergesundheit auf der Insel Riems. Auf der abgeschiedenen Insel werden gefährliche Viren und andere Erreger unter höchster Sicherheitsstufe untersucht. Sie meint: Hätte man nichts unternommen und es wäre eine Epidemie entstanden, hätte es ebenfalls Vorwürfe an die Behörden gegeben.
Auch Ludwig sagt: „Wir haben großes Glück gehabt, dass es nicht schlimmer kam.“ Die nächste Epidemie vorherzusagen, sei unmöglich. Bislang erhältliche Grippe-Medikamente – etwa Tamiflu – nutzten wenig. Daher sei eine Impfung die bessere Lösung. Allerdings dauert es etwa sechs Monate, bis ein neuer Impfstoff auf dem Markt ist – bei den schnelllebigen Grippeviren ein Wettlauf gegen die Zeit. Daher zieht er das Fazit: „Ganz werden wir die Grippe nie ausrotten können.“
Doch es bleibt die Kritik an den immensen Kosten für den Schutz der Bevölkerung, der doch nicht gebraucht wurde. Die Länder sollen auf Kosten in dreistelliger Millionenhöhe sitzen. Auch Interessenkonflikte bei Forschern, die wirtschaftliche Beziehungen zu den Herstellerfirmen haben, werden immer wieder aufgedeckt. Das pharmakritische Arznei-Telegramm sprach wegen der Nähe einiger WHO-Forscher zur Industrie von einer „gesponserten Pandemie“. Das dient nicht gerade dazu, das Misstrauen der Öffentlichkeit zu verringern. Und damit wird es auch künftig die Einzelentscheidung eines jeden bleiben, ob er sich gegen Grippe impfen lässt oder nicht.