Maßgeschneiderte Medizin
Individualisierte Medizin, die eine bessere Abstimmung der Behandlung auf den einzelnen Menschen ermöglicht, wird in rund 20 Jahren das Gesundheitswesen prägen. Zu diesem Ergebnis kommt der Bericht "Zukunftsreport Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem", den das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) erstellt hat. Die Chancen stehen gut, dass durch individualisierte Medizin eine höhere Behandlungsqualität ohne Steigerung der Gesundheitsausgaben erreicht werden kann.
In der medizinischen Praxis ist seit Langem bekannt, dass die gleiche Therapie bei verschiedenen Menschen unterschiedlich anschlagen kann. Als Beispiel nennt Dr. Bärbel Hüsing, Leiterin des Geschäftsfeldes Biotechnologie und Lebenswissenschaften am Fraunhofer ISI, ein Brustkrebs-Medikament, das bei einigen Patientinnen sehr gut wirkt, bei anderen aber nicht. Grund ist die molekulare Struktur des Brustkrebses: Diese wird durch das Medikament angegriffen, andere Brustkrebsformen ohne diese molekulare Struktur werden aber nicht beeinflusst. Durch einen Labortest lässt sich erkennen, welche Brustkrebspatientinnen von dem Medikament profitieren können und welche nicht.
Medikamente und Tests wie diese gehören zu den bisher wenigen Produkten und Anwendungen, die der individualisierten Medizin zuzurechnen sind. Zwar wird es vermutlich nie für jedes Individuum eine individuell maßgeschneiderte Therapie geben, doch Ärzte ordnen ihre Patienten aufgrund neuer Merkmale immer feiner differenzierten Gruppen zu, denen jeweils eine andere Behandlung hilft. Die richtige Therapie wird dann also nicht durch Versuch und Irrtum gefunden, sondern kann zielgenau durch einen Labortest schon vor der Behandlung bestimmt werden. Dem Patienten bleiben so unwirksame Therapien erspart – und dem Gesundheitssystem unnötige Kosten.
© Fraunhofer-Gesellschaft
Dieses Konzept der individualisierten Medizin nennt Bärbel Hüsing "bestechend", weiß aber um die Hindernisse, die auch die Studie aufzählt: Zurzeit wird intensiv erforscht, welche Parameter tatsächlich gemessen werden müssen, um sichere Aussagen über die richtige Therapie zu erlangen, und welche Test- und Messverfahren hierfür eingesetzt werden können. Zudem ist es für Pharmafirmen meist wirtschaftlich attraktiver, Massenprodukte anzubieten, die möglichst vielen Patienten verordnet werden können. Weiterhin bedeuten die zusätzlichen Tests für Ärzte einen größeren Aufwand, sind schwierig auszuwerten und werden oft auch nicht von den Krankenkassen bezahlt – nicht zuletzt deshalb, weil der medizinische Nutzen vieler Untersuchungen noch nicht abschließend geklärt ist.
Und noch ein Problem könnte die Einführung in die medizinische Versorgung beeinflussen: Bei der individualisierten Medizin, betont Bärbel Hüsing, „muss der Patient datenmäßig die Hosen runterlassen“, um die für ihn geeignete Therapie ermitteln zu können – es ist fraglich, ob er dazu bereit sein wird, denn dies wirft Fragen des Datenschutzes auf. Der TAB-Bericht weist auch auf die Gefahr des erhöhten Drucks auf Patientinnen und Patienten durch die individualisierte Medizin hin. Die wachsenden Möglichkeiten, sich auf individuelle Krankheitsrisiken testen zu lassen, könnten auch dazu führen, dass Krankenkassen Risikozuschläge von ihren Versicherten verlangen oder dass der soziale Druck steigt, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen und gesund zu leben.
Wie mit all diesen positiven und negativen Aspekten umgegangen werden könnte und wie die aktuelle und zukünftige Lage der individualisierten Medizin aussieht, wurde am 27. Mai 2009 im Bundestag bei einem öffentlichen Fachgespräch des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung diskutiert.