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Die Biomechanik - ein weites Feld

Die Biomechanik vereinigt die Lebens- mit den Ingenieurwissenschaften. Ingenieure, Mathematiker und Informatiker leisten wichtige Beiträge, um mit mechanischem Wissen und Verständnis, mit komplexen Rechenmodellen und Simulationen den Naturwissenschaftlern neue Einblicke und Medizinern neue Therapieoptionen zu verschaffen. Oftmals arbeiten Ingenieure auch direkt mit Ärzten zusammen, etwa zur Implantatentwicklung und in der Sportmedizin.

In der Biomechanik werden Bewegungsphänomene in biologischen Systemen untersucht. Methoden aus der Mechanik werden auf den Stütz- und Bewegungsapparat, auf Organe, Gewebe und Zellen übertragen. Dabei ist das Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten breit. Zum einen wird untersucht, wie sich biologische Systeme selbstständig den an sie gestellten mechanischen Anforderungen anpassen. Diese Anpassungen beziehungsweise biologischen Optimierungen haben Vorbildcharakter für viele technische Entwicklungen, die unter anderem in der Medizin eingesetzt werden. Sie dienen dann dazu, biologische Funktionen wiederherzustellen oder zu erhalten. Andererseits werden mathematische Optimierungsverfahren in der Technik erprobt, optimiert und dann auch auf biologische Systeme angewandt.

Die Biomechanik ist also ein interdisziplinäres Forschungs- und Anwendungsfeld. Damit steht sie für den Wandel in der Wissenschaftswelt weg von scharf gegeneinander abgegrenzten Fächern hin zu übergreifenden, methodisch verzahnten Ansätzen, bei denen Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen und mit ganz unterschiedlichem Wissens-Hintergrund synergetisch zusammenarbeiten. An der Biomechanik sind viele Disziplinen beteiligt: Bau- und Luftfahrtingenieure sind ebenso involviert wie Biologen, Physiker, Mediziner, Sportwissenschaftler, Mathematiker und Informatiker. Diese Breite dürfte mit ein Grund dafür sein, dass es bis heute in Deutschland nur wenige Lehrstühle für Biomechanik gibt - jedoch zahlreiche Forschungsgruppen, die je nach Hintergrund und Schwerpunkt einer medizinischen, ingenieurwissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Fakultät angehören. Eine Gruppe, die sich der stark grundlagenorientierten Erforschung biomechanischer Prinzipien widmet, ist am Lehrstuhl für Mechanik (Bauwesen) der Uni Stuttgart angesiedelt. Hier nähern sich Bauingenieure der Biomechanik mit Methoden der Kontinuumsmechanik.

Die Mikrostruktur von biologischem Gewebe wird rechnerisch homogenisiert. © Dr. Nils Karajan, Institut für Mechanik (Bauwesen)

Wie funktioniert Bewegung? Die Biomechanik klärt auf.

Viele Forschungsthemen der Biomechanik werden in der Sport- und Bewegungswissenschaft generiert. Beispiele sind grundlagenorientierte Bewegungsanalysen von Sportlern und in der angewandten Forschung die Optimierung von Training, Ausrüstung und Sportgeräten. So gehen Erkenntnisse zur Biomechanik des Stehens, Rennens und Springens auch in die Entwicklung neuer Sportschuhe und Bodenbeläge für Sportplätze und -hallen ein. Aber auch die Medizin profitiert stark von den biomechanischen Ergebnissen aus der Sportwissenschaft, Orthopäden nutzen die Ergebnisse ebenso wie Bewegungstherapeuten oder Entwickler von Prothesen. Wichtige Aspekte zur Biomechanik menschlicher Bewegung und warum auch der Stillstand eigentlich eine Bewegung ist, beschreibt der Artikel „Menschlicher Bewegung auf den Zahn gefühlt“.

Die Analyse und Simulation von Bewegung ist auch ein kommerziell interessanter Markt. Den hat zum Beispiel die Tübinger Firma Biomotion Solutions für sich entdeckt. Sie macht den aktiven Menschen simulierbar und hilft damit zum Beispiel der Automotive-Industrie, neue und bessere Systeme zur Unfall-Prävention und für den Fahr-Komfort zu entwickeln. Auch die Veterinärmedizin ist an Bewegungsanalysen interessiert, etwa zur Erforschung der Biomechanik bei lahmenden Rindern und Pferden.

Nun ist Bewegung ein Prozess, der in biologischen Systemen nicht immer gleich abläuft. Umweltfaktoren und Krankheit beeinflussen ihn ebenso wie Überlastung und Verschleiß: Die Gesellschaft altert und mit ihr die Knochen, Knorpel und Gelenke, Bänder und Sehnen. Neben den Belastungen für Patienten und Angehörige ergibt sich dadurch auch ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. Etwa die Hälfte der rund 26,6 Milliarden Euro, die Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems verursachen, entfallen laut Statistischem Bundesamt auf die Behandlung von Patienten im Alter von 65 und darüber. In der Altersgruppe 65 bis 85 Jahre stehen die Kosten für diese Erkrankungen sogar an zweiter Stelle, nach denen für Krankheiten des Kreislaufsystems. Auch Verletzungen der Hüfte und des Oberschenkels schlagen kostenmäßig vor allem bei älteren Menschen jenseits der 65 zu Buche. Bedenkt man die demografische Entwicklung, ist hier für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ein weiterer Anstieg zu erwarten. Umso wichtiger ist es, effiziente Behandlungsmethoden zu finden – und dazu kann die Biomechanik einen wichtigen Teil beisteuern.

Welche Belastung kann ein Knochen oder Knorpel überhaupt aushalten? Das ist unter anderem für die Osteoporose-Foschung interessant. So untersucht eine Gruppe von Biomechanik-Spezialisten an der Uni Ulm die Frakturheilung – mit einem Schwerpunkt auf dem osteoporotischen Knochen. Die Knochenbelastung bei Alltagsbewegungen und bei sportlichen Aktivitäten analysieren Biomechaniker an der Uni Konstanz. Hier werden auch vergleichende biomechanische Analysen zur Belastung und Beanspruchung der menschlichen Phalangen (Fingergliedern) durchgeführt, vor allem bei Berufsmusikern und Sportkletterern, die besonders starken Belastungen ausgesetzt sind.

Mechanische Einflüsse von außen sind wichtig für die Funktion

Das Muskel-Skelett-Modell der Halswirbelsäule dient zum Beispiel zur Optimierung von Autositzen. © Biomotion Solutions

Auch wenn zuviel Belastung eher schadet: Ohne ein gewisses Maß an mechanischer Belastung würde unser Körper verkümmern, könnte seine Funktionen nicht aufrechterhalten. Was für Muskeln und Skelett sofort einleuchtet, gilt auch im Kleinen. Mechanische Einflüsse wirken auf biochemische Prozesse, können sie zum Beispiel stimulieren oder hemmen. Das ist an sich keine neue Erkenntnis. Der Berliner Arzt Julius Wolff erkannte schon Ende des 19. Jahrhunderts, dass äußere mechanische Einflüsse zu einer Gewebeveränderung führen. 1892 veröffentlichte er das Transformationsgesetz des Knochens, auch als Wollfs Gesetz bekannt.

Mit zunehmendem Wissen um den Stoffwechsel und die molekularen Zusammenhänge verfeinerte sich das Wissen um die Details bis zum Zellniveau und darunter. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschrieben zum Beispiel Swann et al., wie sich die mechanischen Eigenschaften der Gewebe durch mechanischen Einfluss verändern. So haben Implantate einen großen Einfluss auf den Knochenumbau, also den kontinuierlichen Auf- und Abbau von Knochenmaterial im lebenden Körper. Mathematisch erfassen wollen das Ingenieure am Institut für Statik und Dynamik 
der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen der Uni Stuttgart. Die Einflüsse mechanischer Kräfte auf die Stoffwechselaktivität sowie auf die Differenzierung und Proliferation von Zellen wurden in den letzten Jahren bereits mehrfach detailliert beschrieben (zum Beispiel bei Vanwanseele et al. 2002 und Kelly et al. 2005). Neuartige Ansätze zur Mechanobiochemie der Blutgerinnung und der Spinnenseide verfolgt die Gruppe „Molecular Biomechanics" am Heidelberger Institute for Theoretical Studies (HITS). Hier werden Arbeiten durchgeführt, die zeigen und messen, wie Schwerkräfte chemische Bindungen beeinflussen und ermöglichen.

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