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Evidenzbasierte Medizin – zwischen Zauberformel und ärztlicher Zwangsjacke

Die Evidenzbasierte Medizin (EBM) sieht vor, dass Ärzte nur jene Arzneimittel und Therapien einsetzen, deren Wirksamkeit und Nutzen im Rahmen von wissenschaftlichen Studien nachvollziehbar belegt wurden. Mit diesem Konzept soll die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert und gleichzeitig eine rationalere Nutzung der begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen gewährleistet werden. Doch nicht jeder Arzt hat die Zeit und das notwendige statistische Wissen, um die Qualität wissenschaftlicher Studien angemessen beurteilen zu können. Zudem stößt die Evidenzbasierte Medizin nach Meinung vieler Kritiker bei zahlreichen Erkrankungen an ihre methodischen Grenzen. Dennoch berufen sich viele gesundheitspolitische Gremien inzwischen bei ihren Entscheidungen auf dieses neue Konzept.

Bis weit in die 1990er-Jahre hinein erhielten die Eltern von Neugeborenen die Empfehlung, ihre Kinder zum Schlafen auf den Bauch zu legen. Populär gemacht hatte diese Schlafposition der amerikanische Kinderarzt Dr. Benjamin Spock, der in seinem 1958 publizierten und millionenfach verkauften Ratgeber „Baby and Child Care“ die Auffassung vertrat, dass die Gefahr, sich an Erbrochenem zu verschlucken, für einen Säugling in Bauchlage weitaus geringer sei als in Rückenlage. Diese auf theoretischen Überlegungen beruhende Behauptung wurde im Laufe der Zeit weltweit von sehr vielen Kinderärzten übernommen – ohne dass eine kritische wissenschaftliche Überprüfung stattgefunden hätte.

Evidenzgrade und Härteklassen kennzeichnen die methodische Qualität medizinischer Studien. © P. Bottermann, MMW-Fortschr. Med. Nr.4/2006
Heute weiß man, dass die Bauchlage zu den wichtigsten Risikofaktoren für das Auftreten des plötzlichen Kindstods zählt. Erste Hinweise darauf gab es bereits 1970 - doch erst 20 Jahre später wurden die Eltern aufgrund zahlreicher alarmierender Studienergebnisse von den Gesundheitsbehörden aufgefordert, ihre Kinder zum Schlafen wieder auf den Rücken zu legen. Die Inzidenz des plötzlichen Kindstods sank daraufhin in einigen Industriestaaten binnen kürzester Zeit um mehr als 50 Prozent. Den Befürwortern der Evidenzbasierten Medizin gilt dieser Fall als Paradebeispiel dafür, dass Empfehlungen in der Medizin stets auf statistischen Beweisen basieren sollten – und nicht nur auf der ungeprüften Lehrmeinung einzelner Experten. Denn hätte bereits in den 1970ern eine systematische Auswertung der damals schon verfügbaren Studiendaten zur Schlafposition stattgefunden, hätten sich nach Schätzungen von Fachleuten weltweit mehr als 50.000 Todesfälle bei Säuglingen verhindern lassen.

Goldstandard der Epidemiologen

Der britische Epidemiologe Professor Archibald Cochrane hatte in seinem 1972 erschienenen Buch „Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services“ bereits auf die Bedeutung randomisierter, kontrollierter Studien in der Gesundheitsversorgung hingewiesen. Bei der Wirksamkeitsbewertung medizinischer Therapien sind diese Studien inzwischen als Goldstandard akzeptiert. Allerdings dauerte es noch bis 1996, ehe eine von David Sackett geführte Gruppe von Klinikern und klinischen Epidemiologen an der kanadischen McMaster-Universität dem Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EBM) zum Durchbruch verhelfen konnte.

Befürworter dieses Konzepts wollen erreichen, dass die Ärzte nur noch wissenschaftlich untermauerte Arzneimittel und Therapien verordnen dürfen. Die Fachleute erhoffen sich davon nicht nur eine Steigerung der Behandlungsqualität, sondern auch eine Eindämmung der Kosten im Gesundheitswesen, weil zahlreiche Therapieformen, die ihren Nutzen nicht belegen konnten, in der Folge nicht mehr zum Einsatz kommen. Viele betrachten die Evidenzbasierte Medizin inzwischen sogar als eine Art „Zauberformel“, wenn es um die Ermittlung der aktuell besten verfügbaren Medizin geht.

Wissenschaftliche Fakten

© BIOPRO

Doch die Menge an publizierter Literatur in der Medizin nimmt seit Jahren exponentiell zu. Über 10.000 Fachzeitschriften und mehr als 2.000.000 medizinische Artikel sowie 10.000 randomisierte kontrollierte Studien im Jahr sind für den Einzelnen nicht mehr zu überblicken. Die „Halbwertszeit des Wissens“ beträgt in der Medizin nur noch fünf Jahre – Tendenz weiter fallend. In der Praxis gewinnt der Bedarf an sinnvoll zusammengefasster und verlässlich bewerteter Information deshalb zunehmend an Bedeutung.

Dieser Aufgabe fühlt sich unter anderem die internationale „Cochrane Collaboration“ verpflichtet. Das 1993 gegründete unabhängige Netzwerk von Wissenschaftlern und Ärzten analysiert und bewertet möglichst alle verfügbaren medizinischen Studien zu einem definierten Gesundheitsproblem. Dabei wird die methodische Qualität der Studien durch sogenannte „Evidenzgrade“ gekennzeichnet. Die Cochrane Collaboration spielt inzwischen eine führende Rolle bei der Erstellung systematischer Übersichtsarbeiten und Metaanalysen und liefert den medizinischen Fachgesellschaften die wissenschaftlichen Fakten, die für die Erstellung evidenzbasierter medizinischer Leitlinien notwendig sind.

Ärzte sehen Therapiefreiheit eingeschränkt

Allerdings begrüßen nicht alle Ärzte die Entwicklungen, die mit der Evidenzbasierten Medizin in der Patientenversorgung Einzug gehalten haben. Viele kritisieren vor allem die Einschränkungen hinsichtlich der Diagnose- und Therapiefreiheit und bezeichnen die EBM als eine „Zwangsjacke für Ärzte“. Die Problematik wird vor allem dann offensichtlich, wenn Patienten an Erkrankungen leiden, für deren Behandlung ein Wirksamkeitsnachweis der Evidenzklasse I bisher nicht erbracht werden konnte. Gerade bei seltenen Erkrankungen, für die keine Studienergebnisse aus großen Kollektiven zur Verfügung stehen, müsse die individuelle ärztliche Erfahrung und Expertise über der Forderung nach externer wissenschaftlicher Evidenz stehen, argumentieren die Kritiker. Nicht zuletzt deshalb basieren momentan nur 30 bis 40 Prozent aller medizinischen Maßnahmen auf nachgewiesener wissenschaftlicher Evidenz.

Komplett verschließen kann sich die Ärzteschaft der Evidenzbasierten Medizin jedoch nicht mehr. Auch wenn die von den Fachgesellschaften erstellten Leitlinien für die Mediziner zurzeit rechtlich noch nicht bindend sind, in den wichtigsten medizinischen und gesundheitspolitischen Entscheidungsgremien - wie beispielsweise dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland - bestimmt die Evidenzbasierte Medizin bereits die Richtlinien, die der Festlegung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenkassen wie auch der Bewertung des medizinischen Forschens zugrunde liegen. Denn ein standardisiertes und wissenschaftlich begründetes Vorgehen in der Gesundheitsversorgung erscheint vielen aus Gründen der Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit inzwischen als unerlässlich.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/dossier/evidenzbasierte-medizin-zwischen-zauberformel-und-aerztlicher-zwangsjacke