Evolutionsforschung - Von der klassischen Biologie zur molekularen Phylogenie
„Nichts in der Natur ergibt Sinn, außer im Lichte der Evolution“, sagte der Evolutionsgenetiker Theodosius Dobzhansky. Den Schluss, dass gemeinsame Merkmale verschiedener Arten (in heutiger Terminologie homologe Merkmale) auf eine gemeinsame Abstammung zurückzuführen sind, stellt seit Darwin kein Wissenschaftler ernsthaft in Frage. Freilich gibt es immer noch genügend Menschen, die sich gegen diese Erkenntnis wehren. Mit wenigen Mausklicks im Internet unter den entsprechenden Stichworten kann man sich von der Wut, den dreisten Behauptungen und Lügen überzeugen, mit denen religiöse und pseudoreligiöse Eiferer auch nach 150 Jahren dagegen ankämpfen.
Die Verwandtschaftsverhältnisse im Reich der Organismen sind durch vergleichende Untersuchungen lebender Arten in ihren Grundzügen und oft auch in erstaunlicher Detailgenauigkeit aufgeklärt worden. Die kunstvollen, minutiös ausgearbeiteten Stammbäume, die Ernst Haeckel, Zeitgenosse und glühender Verehrer Darwins, gezeichnet hatte, kann man nur mit Bewunderung betrachten. Aus ihnen sprechen tiefe Kenntnisse und Einsichten und ein feines Gespür für evolutive Zusammenhänge. Grundlagen solcher Stammbäume waren zunächst vor allem vergleichende Anatomie und Morphologie sowie Entwicklungsgeschichte und Embryologie.
Ernst Haeckel: Monophyletischer Stammbaum der Organismen. (Abbildung: Universität Jena)
Natürlich gab es viele ungeklärte Fragen - oft Gegenstände erbitterten akademischen Streites - und, aus heutiger Sicht, offenkundige Fehlbeurteilungen. Während z. B. Haeckel geradezu hellsichtig die Wale als Schwestergruppe der Flusspferde und in die Verwandtschaft der Paarhufer (Artiodactylen) postulierte, beging er den großen Fehler, auch die Seekühe (Sirenia) als mit den Walen verwandt einzuordnen. Hier hatte er eine konvergente mit einer homologen Entwicklung verwechselt. In neuerer Zeit kamen neben der Genetik vor allem Physiologie, Biochemie und Verhaltensforschung als wichtige Instrumente der Evolutionsforschung hinzu.
Ohne Fossilien geht es nicht
Trilobiten aus dem Mittelkambrium (Foto: Universität Tübingen)
Natürlich war auch klar, dass das Studium heute lebender Organismen nicht ausreicht, um zu klären, wie die Evolution in Wirklichkeit erfolgt ist. Die Herkunft der Vögel aus Reptilien lässt sich aus vergleichender Anatomie und Embryologie ableiten, nicht aber ihre Abstammung von theropoden Dinosauriern. Nur Fossilien dokumentieren uns, dass Dinosaurier überhaupt gelebt haben. Das gleiche gilt für die Therapsiden, aus denen die Säugetiere entstanden sind, ebenso für die Trilobiten und die anderen sonderbaren Tiere, die zusammen mit dem jetzt entdeckten ältesten Krebs die Meere des Kambriums vor 520 Millionen Jahren bevölkerten.
In den letzten Jahrzehnten trat der DNA-Sequenzvergleich zur Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen immer mehr in den Vordergrund. Sie ist im Wesentlichen auf rezente Organismen beschränkt (Sequenzanalysen fossiler DNA-Fragmente haben zwar in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregt, wie etwa bei der Frage unserer Verwandtschaft mit dem Neandertaler, aber sie können im besten Falle nur für die Zeitspanne der letzten Jahrzehntausende eingesetzt werden). Die molekulare Evolutionsforschung mit Hilfe von DNA-Analysen hat aber nicht nur ganze Organismengruppen, die fossil gar nicht oder unzureichend dokumentiert sind, der Evolutionsforschung zugänglich gemacht, sie macht sogar erstaunlich präzise Zeitangaben, wann sich Entwicklungslinien in der fernen Vergangenheit getrennt haben. Diese molekulare Uhr wurde zunächst von Linus Pauling und Emile Zuckerkandl anhand der Aminosäuresequenzen von Proteinen postuliert, nur ist dieser Ansatz so aufwändig und mühsam, dass er zugunsten der Nukleinsäureanalytik aufgegeben wurde, sobald zuverlässige Sequenziermethoden zur Verfügung standen. In rascher Folge werden heute für alle Organismengruppen detaillierte Stammbäume mit dem Instrumentarium der molekularen Phylogenie beschrieben und chronologisch eingeordnet.
DNA – ein einzigartiges historisches Archiv
Ernst Haeckel 1904: Kunstformen der Natur. 49. Tafel, Ausschnitt
Derartig weitgehende Schlussfolgerungen über längst vergangene Ereignisse auf der Basis von DNA-Sequenzen heutiger Organismen erscheinen vermessen. Die Begründung für die Selbstsicherheit der Molekulargenetiker hat Richard Dawkins mit großer Klarheit dargelegt (R. Dawkins 2004, „The Ancestor’s Tale“, p. 21 f.): „Solange die Reproduktionskette des Lebens nicht unterbrochen ist, wird die in der DNA kodierte Information in ein neues Molekül hinein kopiert, bevor das alte Molekül zerstört wird. Auf diese Weise überlebt die DNA-Information die DNA-Moleküle bei Weitem; sie kann, da sie jedes Mal bis in die einzelnen Buchstaben hinein nahezu perfekt kopiert wird, potenziell unbegrenzt lange überleben. Große Teile der DNA-Information unserer Vorfahren bleiben in den nachfolgenden Generationen lebender Organismen unverändert erhalten – manchmal über Hunderte von Millionen Jahren. Für den Historiker ist die DNA, so verstanden, eine nahezu unglaublich reiche Datenquelle. Wer hätte sich eine Welt zu erhoffen gewagt, in der jedes einzelne Individuum jeder Art in seinem Körper ein langes, detailliertes Schriftdokument aus den Tiefen der Zeit mit sich trägt.
Damit nicht genug. In dem Dokument gibt es kleine, zufällige Änderungen, die selten genug sind, um die Botschaft nicht unleserlich zu machen, und doch häufig genug, um als distinkte Markierungen zu dienen. Aus der Darwinschen Evolution folgert, dass die Körperform, das ererbte Verhalten, die Chemie der Zellen eines Organismus, ob Tier oder Pflanze, eine verschlüsselte Information über die Welt, in der seine Vorfahren überlebt hatten, darstellt. Die Botschaft ist letzten Endes in der DNA enthalten, welche die Filter der natürlichen Selektion überstanden hat. Wenn wir die DNA eines Delfins richtig lesen lernen, könnte sie uns eines Tages bestätigen, was uns die Anatomie und Physiologie des Tieres schon mitgeteilt haben: dass seine Vorfahren einst auf dem trockenen Lande lebten. Dreihundert Millionen Jahre zuvor waren die Vorfahren aller landlebenden Wirbeltiere, einschließlich der landlebenden Delfin-Ahnen, aus dem Meer gekrabbelt, wo sie sich seit der Entstehung des Lebens aufgehalten hatten. Zweifellos enthält unsere DNA auch Informationen über dieses Ereignis. Wenn wir sie nur verstünden.“ (Übersetzung: EJ)