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Orphan Drugs: Medizin gegen seltene Krankheiten

Unter „Orphan Drugs“ (wörtlich übersetzt: Waisenkinder-Medikamente) versteht man Arzneimittel gegen seltene, aber schwere Krankheiten. Man schätzt ihre Zahl auf insgesamt etwa 5.000; in der Mehrzahl der Fälle (80 Prozent oder mehr) handelt es sich dabei um genetische Krankheiten.

Weil die Patientenzielgruppe für solche Medikamente klein ist, zeigte die Pharmaindustrie naturgemäß geringes Interesse an ihrer Entwicklung, denn es war kaum damit zu rechnen, dass sich die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen für derartige Produkte in einem angemessenen Zeitraum am Markt amortisieren ließen. Das galt besonders, nachdem seit den 1970er Jahren die Kosten für die Arzneimittelentwicklung infolge der verschärften Regularien (ausgelöst vor allem durch die Thalidomid-Katastrophe) und der Fusionswelle innerhalb der Pharmaindustrie zu immer größeren globalen Konzernen immer weiter und stetig in die Höhe schnellten.

Wirtschaftliche Anreize für die Therapie seltener Krankheiten

Damit sich die bestehende Lücke in der Arzneimittelversorgung bei weniger verbreiteten Krankheiten nicht noch weiter vergrößerte, beschloss der Kongress der Vereinigten Staaten, wirtschaftliche Anreize zur Entwicklung derartiger Medikamente zu schaffen. Nach dem am 4. Januar 1983 verabschiedeten „Orphan Drug Act“ wurden als seltene Krankheiten oder Zustände („rare diseases or conditions“) solche angesehen, von denen weniger als 200.000 Personen in den USA betroffen sind oder – falls die Zahl darüber liegen sollte – nicht erwartet werden kann, dass die Kosten für die Herstellung entsprechender Medikamente und ihre Vermarktung in den USA durch Verkäufe auf dem Heimatmarkt gedeckt werden können.
Die Leberzelltherapie wurde von der europäischen Behörde für Arzneimittel EMEA im Herbst 2006 als Arzneimittel für seltene Leiden (Orphan Drug) ausgewiesen. Damit ist ein beschleunigtes Zulassungsverfahren möglich. (Abbildung: Cytonet)
Die Anerkennung des Orphan-Drug-Status beinhaltete für den Hersteller Steuererleichterungen, Zuschüsse für die klinische Prüfung, eine beschleunigte Zulassung durch die FDA und ein exklusiver Schutz der Vertriebsrechte für sieben Jahre. In diesem Zeitraum durfte keine andere Firma mit demselben Präparat auf den Markt kommen.

Besonders an den exklusiven Vertriebsrechten wurde heftige Kritik geübt. Sie sind für das Unternehmen der attraktivste Punkt, da sie ihm eine siebenjährigen Monopolstellung sichern; für den Patienten und seine Versicherung können sie aber zu unangemessen hohen Preisen führen. Auch der Begriff „desselben“ Präparats wird immer wieder juristisch heftig umkämpft. Dennoch kann der Orphan Drug Act als ein großer Erfolg gewertet werden. In den ersten zehn Jahren seit seiner Einführung wurde für 642 Entwicklungen der Orphan-Drug-Status genehmigt, von denen schließlich 136 als Arzneimittel zugelassen wurden. Die meisten dieser Entwicklungen, besonders bei biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln, erfolgten an Universitäten und Kliniken sowie an kleinen und mittleren Unternehmen. Gerade für die amerikanische Biotech-Industrie war der Orphan Drug Act ein wichtiger Wachstumsfaktor.

Nachzügler Europa

Es dauerte jedoch lange, bis andere Länder mit entsprechenden Gesetzgebungen an diese Erfahrungen und Erfolge anknüpften. Japan war 1993 das zweite Land, das ein Orphan-Drug-Gesetz erließ, und noch einmal sechs Jahre später folgte - von den betroffenen Patienten und ihren Organisationen ungeduldig erwartet - die Europäische Union mit der „Verordnung über Medizinprodukte für seltene Krankheiten“, die im April 2000 in Kraft trat. Von der EMEA, der europäischen Zulassungsbehörde, wurde dazu ein Ausschuss für Arzneimittel für seltene Krankheiten („Committee for Orphan Medicinal Products“, COMP) eingesetzt, dem die Begutachtung der Anträge auf Erteilung des Orphan-Drug-Status obliegt und in dem - erstmalig für einen institutionellen Ausschuss der EU - auch Patientenorganisationen als volle Mitglieder vertreten sind. Sie stellen sogar den stellvertretenden Vorsitzenden.
Krebsimpfstoffe von immatics befinden sich bereits in der klinischen Entwicklungsphase. (Foto: immatics)
Die von der Gesetzgebung der EU gebotenen Anreize zur Entwicklung von Orphan Drugs orientieren sich an den Erfahrungen der USA. So bietet die EMEA Beratung und Hilfestellung an bei der Optimierung der Entwicklung und der Erstellung des Dossiers entsprechend den regulatorischen Anforderungen. Das Genehmigungsverfahren wird durch direkte Zulassung zum zentralisierten Verfahren der EMEA beschleunigt und erleichtert, und die Gebühren für den Antrag, die Genehmigung und die Prüfungen werden ermäßigt oder erlassen. Der attraktivste Anreiz ist das alleinige Vertriebsrecht für die Dauer von zehn Jahren für den Entwickler des Orphan Drugs in der zugelassenen Indikation.

Die Kriterien für die Einstufung als „Orphan Disease“ sind in den drei Wirtschaftsräumen etwas unterschiedlich geregelt: In der EU wird eine Krankheit bei einer Inzidenz von weniger als 5 auf 10.000 Einwohner definiert; in den USA sind es 7,5 auf 10.000 und in Japan 4 auf 10.000. Voraussetzung für die Ausweisung als Orphan Drug ist, das es in der Indikation bisher keine ausreichende Therapie gibt.

Eine wichtige Erleichterung für die Entwickler bedeutet die Ende 2007 verkündete Entscheidung von FDA und EMEA, dass zukünftig die gleichen Formulare für die Beantragung des Orphan-Drug-Status in den USA und der EU verwendet werden, also Format und Inhalt der Anträge in beiden Räumen harmonisiert werden, wodurch die parallele Beantragung und Kennzeichnung stark beschleunigt werden kann. Die Begutachtung selbst erfolgt nach wie vor in beiden Agenturen unabhängig voneinander.

Orphan-Drug-Verordnung mit großer Resonanz in Europa

Auch in Europa hat die Orphan-Drug-Verordnung große Resonanz gefunden. Allein bis Ende 2003 (32 Monate nach Inkrafttreten) wurden 320 Anträge gestellt. Nach Angaben des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller sind bis heute in der EU 47 Medikamente in der Kategorie Orphan Drugs zugelassen worden. Bei letzteren handelt es sich zumeist um bereits bekannte Medikamente, die von großen Pharma-Unternehmen, welche die Vermarktungsrechte besitzen, für neue, seltene Indikationen beantragt worden waren, wie zum Beispiel Glivec von Novartis gegen Akute Lymphatische Leukämie oder gegen Chronische Myeloische Leukämie.

Wirkliche Innovationen finden sich unter den bisherigen Zulassungen kaum - wohl aber unter den vielen Anträgen, die hauptsächlich von kleinen und mittleren Biotech-Unternehmen eingereicht worden sind. Für viele Neuentwicklungen der Biotechnologie sind die Empfehlungen der COMP, den Orphan-Drug-Status zu verleihen, von entscheidender Bedeutung, und es steht zu hoffen, dass diese innovativen, gegen seltene Krankheiten gerichteten Produkte in den nächsten Jahren zugelassen werden. Die europäische Verordnung über Medizinprodukte für seltene Krankheiten würde sich dann wie der Orphan Drug Act der USA als Innovationsmotor für die medizinisch-pharmazeutische Biotechnologie in Europa erweisen und seinen eigentlichen Zweck erfüllen, nämlich Patienten mit seltenen, bisher unheilbaren Krankheiten begründete Hoffnung auf eine wirksame Therapie in der Zukunft zu geben.

In den folgenden Artikeln dieses Schwerpunktthemas werden neuartige Medikamentenentwicklungen in Biotech-Unternehmen und Forschungseinrichtungen Baden-Württembergs gegen solche seltenen Krankheiten vorgestellt.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/dossier/orphan-drugs-medizin-gegen-seltene-krankheiten