Tierversuche: Alternativen dringend gesucht
Allein in Baden-Württemberg haben sich in den vergangenen Jahren jeweils bis zu 600.000 Tiere um die Wissenschaft verdient gemacht. Damit ihr Schmerz und Leiden zukünftig so weit wie möglich ausgeschlossen werden kann, arbeiten Forscher in aller Welt an innovativen Ersatzverfahren – vom Zellkulturmodell für Arzneimittelanalysen, über ein künstliches Blutgefäßsystem für Chemikalientest bis hin zu schnellen Computersimulationen für die Diabetesforschung.
In Baden-Württemberg zählen Mäuse zu den am häufigsten eingesetzten Versuchstieren in der Forschung.
© Dr. Mardas Daneshian
Rund 2,7 Millionen Tiere sterben laut dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz jährlich in Tierversuchen – mit einer steigenden Tendenz. Ein Zuwachs, der unter anderem auf Versuche für die Erforschung oder Entwicklung von Produkten, Geräten oder Verfahren für Human-, Zahn- oder Veterinärmedizin zurückzuführen ist. Zu den häufigsten Versuchstieren gehören Mäuse (in Baden-Württemberg: circa 286.000), Fische (circa 138.000) oder Ratten (circa 91.000) (1), oftmals wichtiger Bestandteil in der transgenen Forschung, in der das Erbgut von Versuchstieren verändert wird, um an ihnen die Funktion einzelner Gene zu untersuchen. Mäuse und Ratten werden als Versuchstiere bevorzugt, denn sie sind günstig in der Anschaffung und vermehren sich schnell. Dahingegen erscheinen Experimente mit Hunden, Schafen und Affen als komplizierter - diese sind teurer und zudem schwieriger zu halten.
In Baden-Württemberg wurde nach einem Bericht des Landwirtschafts- sowie des Wissenschaftsministeriums im Jahre 2007 in 53 Einrichtungen mit Tieren experimentiert. Dazu zählen zum größten Teil staatliche oder staatlich geförderte Institutionen wie Hochschulen oder Universitätskliniken, gefolgt von 22 Privatunternehmen im Land, die Tierversuche durchführen. In erster Linie werden Versuchstiere für die biologische und medizinische Grundlagenwissenschaft eingesetzt, welche im Gegensatz zur Arzneimittelforschung keine konkreten Fragen der Anwendung zum Ziel hat. Auf anderen Gebieten, etwa der Toxikologie oder der medizinischen Forschung in der Industrie, haben die Verantwortlichen in den letzten Jahren hingegen vermehrt auf alternative Testsysteme gesetzt.
Vollbluttests ersetzen Kaninchen
Zu den wichtigen Entwicklungen der letzten Jahre zählen zum Beispiel Vollbluttests, bei denen die zu prüfende Substanz nicht mehr an Kaninchen getestet wird, sondern an Blutzellen des Menschen. Beim Auslösen von Fieber durch eine bestimmte Substanz wird der Botenstoff Interleukin-1 beta durch weiße Blutzellen ausgeschüttet. Bislang wurden die Kaninchen für den sogenannten Pyrogen-Test über Stunden fixiert und ihre Temperatur über den gesamten Zeitraum gemessen, was bei den Tieren eine hohe Belastung mit sich bringt. Pyrogene, als hitzeresistente Elemente von Bakterien, birgen als Verunreinigungen der Injektionsinstrumente Gefahren, da sie Fieber, Blutdruckabfall oder Multiorganversagen verursachen und im schlimmsten Fall den Tod herbeiführen können.
Allein in den USA und der EU werden jedes Jahr immer noch 400.000 Kaninchen für den Pyrogentest, der weltweit vom Gesetzgeber vorgeschrieben ist, gebraucht und danach getötet. Erst kürzlich wurde der von Prof. Thomas Hartung und Prof. Albrecht Wendel an der Universität Konstanz entwickelte Pyrogentest „PyroDetect“ in Europa als in-vitro-Ersatzmethode zugelassen. PyroDetect nutzt das menschliche Blut als Sensor und erlaubt nicht nur die Messung des Fieber auslösenden Moleküls im Blut von Blutspendern ohne Tierversuch, sondern damit sogar in der richtigen Spezies, dem Menschen.
Organe aus dem Reagenzglas
Inzwischen werden aber auch Organe und menschliches Gewebe künstlich gezüchtet, um beispielsweise bei Tests mit neuen Wirkstoffen auf Tierexperimente verzichten zu können. So wurde im vergangenen Jahr am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart ein funktionsfähiges System mit Blutgefäßen entwickelt, dass als dreidimensionales Lebermodell der Pharmaindustrie zukünftig höhere Sicherheit bieten und den Weg zum neuen Medikament verkürzen soll.
Die Wissenschaftler verwenden dabei einen kleinen Teil eines Schweine-Dünndarms, das über eine Arterie und eine Vene verfügt. Daraus eliminieren sie bis auf die Proteine der Bindegewebsschicht und die Röhren des Gefäßsystems alle tierischen Zellen. Das Gefäßsystem-Geflecht wird anschließend von innen mit menschlichen Endothelzellen ausgefüllt und sobald im Gefäßsystem künstliches Blut zirkuliert, können auf der Matrix Zellen der Leber heranwachsen. Das Lebermodell ermöglicht es, zu untersuchen, ob beim Abbau neuer Wirkstoffe giftige Substanzen entstehen, indem die Medikamente mit menschlichen Zellen physiologisch in Kontakt gebracht werden. Derzeit erfolgt die Prüfung des Testsystems, das in ein bis zwei Jahren eine sichere Alternative zum Tierversuch sein könnte.
Künstliche Augenhornhaut für Chemikalienstests
Die Wissenschaft arbeitet an innovativen Verfahren, die Tierforschungsanlagen irgendwann weitestgehend überflüssig machen könnten.
© Dr. Mardas Daneshian
Eine Alternative stellen auch Zellkulturmodelle dar. An der Akademie für Tierschutz forscht man in Kooperation mit der Universität Bremen zurzeit an der Entwicklung eines Ersatzverfahrens zum Augenreiztest an Kaninchen, dem sogenannten Draize-Test. Bei dem bereits vor rund 50 Jahren entwickelten Verfahren werden zu prüfende Chemikalien in das Auge des Kaninchens getropft und daraus folgende Gewebeverletzungen in Form eines Punktesystems bewertet.
Die im aktuellen Gemeinschaftsprojekt erforschte Alternativmethode basiert auf der Herstellung eines künstlichen Augenhornhautmodells aus unsterblichen Zellinien und entspricht weitestgehend strukturell und physiologisch betrachtet einer in-vitro Hornhaut. Zusammengesetzt ist das Modell aus einem mehrschichtigen Kornea-Epithel, einem einschichtigen Endothel sowie einer Kollagenmatrix, die eingelagerte Keratozyten enthält. Mithilfe des Modells sollen verschiedene Routinetestverfahren etabliert werden, um die Bewertung einer schwachen oder mäßig augenreizenden Wirkung von chemischen Stoffen deutlich zu verbessern. Neben dem Wegfall des Draize-Tests, der bis heute zur vom Gesetzgeber verlangten Sicherheitsprüfung gehört, würde die künstliche Augenhornhaut auch zu einem stärkeren Verbraucherschutz führen.
Zudem werden momentan Alternativ-Modelle erarbeitet, um Stoffe tierversuchsfrei auf Krebserregung zu prüfen. So beispielsweise an der Hochschule Esslingen, an der Biologen an einem Testsystem aus menschlichen Zellkulturen arbeiten, von dem insbesondere die Kosmetikindustrie profitieren soll. Die aus menschlichem Lungenkrebsgewebe stammenden Zellen sollen unter besonderen Bedingungen, beispielsweise dem Einsatz in einem Plastikfilter mit einer künstlichen Membran, von sich aus ein funktionstüchtiges Lungengewebe nachbauen. Daran sollen anschließend zum Beispiel Kosmetikstoffe oder Medikamente getestet werden, die sonst in Tierversuchen angewandt werden. Ausprobiert wird das Modell anhand von Nanopartikeln, welche in Kosmetikartikeln vorkommen. Die Forscher erhoffen sich, Aufschluss darüber zu erhalten, welchen Einfluss derartige Partikel auf die Lebensfähigkeit der Lungen- und Immunzellen haben.
Virtuelle Modelle bringen auch Tempozuwachs
Auch Computersimulationen von Zellsystemen werden vermehrt zur Prüfung der Giftigkeit von Substanzen und ähnlichen Forschungszwecken verwendet, verbunden mit einer zunehmenden Aussagekraft. Schon heute gibt es ausgereifte Computermodelle, um zum Beispiel vorhersehen zu können, ob ein Medikament oder eine Chemikalie hormonaktiv wirken. Hierbei werden die Rechner mit den gesammelten Daten bekannter Reaktionen zahlreicher unterschiedlicher Stoffe gefüttert, die fälschlicherweise Andockstellen für Hormone aktivieren. Der Vorteil liegt dabei ganz klar auch in der Beschleunigung von Forschungsprojekten.
Verfahren der Informationstechnologie erlauben den Forschern dann nicht mehr nur zehn bis hundert Studien pro Jahr durchzuführen, sondern schrauben diese Zahl auf 10.000 oder mehr derartiger Untersuchungen. Allerdings stoßen Computersysteme an ihre Grenzen, da es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keines gibt, dass den ganzen Organismus (zum Beispiel bei Tests zur Anreicherung von Stoffen im Körper wie Asbest oder Nanopartikel) darstellen kann und somit im Endeffekt Tests an lebenden Tieren weiterhin unvermeidbar sind.
Gesetzliche Bestimmungen
Seit 2004 sind Tierexperimente für Kosmetika innerhalb der EU nicht mehr erlaubt.
Tierversuche müssen in der Bundesrepublik von den Regierungspräsidien grundsätzlich genehmigt werden. Zur Zulassung von Medikamenten auf dem internationalen Markt sind sie sogar gesetzlich vorgeschrieben. Seit 1998 sind Tierexperimente für Kosmetika in Deutschland und seit 2004 innerhalb der EU verboten. Da die produzierenden Unternehmen in Drittländer ausweichen können, werden nach wie vor auf diesem Gebiet Tierversuche durchgeführt. Eine neue EU-Kosmetikrichtlinie sieht vor, dass ab 2013 keine in Tierversuchen getesteten Kosmetikprodukte mehr in die EU eingeführt werden dürfen(2). Augrund ihrer Grundinhaltsstoffe unterliegen Kosmetika wie Lippenstift oder Cremes der EU-Chemikalienrichtlinie und dürfen somit weiterhin in Tierversuchen getestet werden. Bis der Gesetzgeber neue Alternativmethoden akzeptiert, vergeht allerdings häufig sehr viel Zeit. Erst kürzlich wurde ein lange Jahre umstrittener Zelltest als Ersatzverfahren zum Miesmuschel-Test mit Mäusen gesetzlich legitimiert. Da Miesmuscheln gelegentlich giftig sein können, musste bisher jede zum Verzehr bestimmte Gütermenge an Mäusen getestet werden.
Abgesehen von den ethischen Aspekten sind Tierversuche und die damit verbundene Tierhaltung für die Industrie häufig sehr teuer. Oft bewegten die Kosten und die schlechte Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse auf Menschen Firmen eher dazu, auf Alternativmethoden zu setzen.
Für viele Unternehmen ist das ein Anstoß, weiter nach neuen Methoden zu suchen. Für einheimische Firmen könnte die Fokussierung auf Tierersatzverfahren ökonomisch betrachtet zudem den Vorteil bedeuten, auf einen späteren, unter Umständen kostspieligen Import des Knowhows über innovative Alternativen aus dem Ausland zu verzichten.
Literatur:
(1): Bericht des Landwirtschafts- und Wissenschaftsministeriums (2007)
(2): https://www.gesundheitsindustrie-bw.deec.europa.eu/enterprise/cosmetics/doc/200315/200315_de.pdf