IAACD & EACD Kongress: Organisation und Inhalte
Den Kongress richten zwei Fachgesellschaften gemeinsam aus, die European Academy of Childhood-onset Disability (EACD) und der Weltverband International Alliance of Academies of Childhood Disability (IAACD). Rund 2.000 Teilnehmende aus aller Welt werden vom 24. bis 28. Juni im Congress Center Heidelberg erwartet. Ergänzend zum Hauptkongress findet am 24. und 25. Juni ein Vorkongress in Maulbronn statt, wo das Kinderzentrum Maulbronn (KIZE) deutschlandweit eine führende Rolle in der sozialpädiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Entwicklungsstörungen einnimmt. Zum erweiterten Programm des Kongresses gehört auch ein Action Day des EACD & IAACD für betroffene Kinder, Jugendliche und ihre Familien auf dem SRH Bildungscampus in Neckargemünd. Die SRH Stephen-Hawking-Schule ist ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum, das sich auf die Förderung der körperlichen und motorischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fokussiert.
Die Schwerpunkte des Kongresses sind aktuelle Ergebnisse aus der Grundlagen- sowie der klinischen Forschung, unter anderem zu Früherkennung, Vorhersage des Krankheitsverlaufs, Frühintervention sowie zu innovativen Behandlungsmethoden, die in einigen Fällen auch künstliche Intelligenz sowie moderne Rehabilitationstechnologie nutzen. Darüber hinaus diskutieren Expertinnen und Experten auf dem Kongress, wie die gesellschaftliche Teilhabe von betroffenen Kindern und Jugendlichen im Alltag verbessert werden kann, um der UN-Behindertenkonvention gerecht zu werden: Besondere Aktualität hat die Inklusion auch durch zuletzt verstärkt geführte sozialpolitische Debatten gewonnen. Darauf nimmt ein Vortrag von Dr. Christoph Schickhardt vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) bei der Eröffnung des Kongresses Bezug.
Beispiel MYT1L-Syndrom: Heidelberger Netzwerk vom Molekül bis in die Klinik
Zum Kongress kommen Teilnehmende aus rund 80 Ländern nach Heidelberg, um gemäß dem Motto des Kongresses „Developing Networks – Networks for Development“ Netzwerke zu knüpfen, die Kinder weltweit in ihrer Entwicklung unterstützen. Ein solches Netzwerk von der Forschung bis zur klinischen Versorgung ist in Heidelberg für das sogenannte MYT1L-Syndrom entstanden. Das MYT1L-Gen ist ein Teil des menschlichen Erbguts, das die Entwicklung von Nervenzellen steuert und die Aktivität von Gehirnzellen reguliert. Veränderungen des MYT1L-Gens wirken sich vielfältig auf die Entwicklung betroffener Kinder aus: Sie beginnen oft vergleichsweise spät mit dem Sprechen, zeigen ein auffälliges Verhalten mit autistischen Merkmalen, haben ein vermindertes Sättigungsgefühl mit einhergehendem Übergewicht, leiden unter Epilepsie oder Schlafstörungen. Für Matilda, eine junge Patientin mit MYT1L-Syndrom, ist es unter anderem sehr schwer, auf sie einwirkende Reize zu filtern. Alltägliche Situationen wie ein Spaziergang durch die Stadt können sie überreizen und aus dem Gleichgewicht bringen. Als „Gewitter im Kopf“ beschreiben Eltern diese Reizüberflutung. Sie erschöpft die Kinder und entlädt sich in häufigen Wutanfällen.
In der Regel sind Kinder mit Beeinträchtigung wie Matilda bei Kinderärzten oder bei einem Sozialpädiatrischen Zentrum in Behandlung. „Zu uns ans Universitätsklinikum Heidelberg kommen sie, um abzuklären, ob die Beeinträchtigung genetisch bedingt ist“, sagt Dr. Christian Schaaf, W3-Professor für „Humangenetik“ der Medizinischen Fakultät Heidelberg und Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik des UKHD. Das Universitätsklinikum ist dabei eines von rund 20 spezialisierten Zentren in Deutschland, das am bundesweiten Modellvorhaben Genomsequenzierung teilnimmt. Die Diagnostik geht dabei allerdings deutlich über die reine Genomsequenzierung, also die Untersuchung des menschlichen Erbguts in einer Blutprobe hinaus. „Wir erheben auch sehr detailliert klinische Informationen, welche Einschränkungen vorliegen und dokumentieren sie präzise anhand von Klassifizierungen wie der Human Phenotype Ontology (HPO)“, so Schaaf. Dazu führen die Ärztinnen und Ärzte bei den Kindern genaue körperliche Untersuchungen und Funktionstests, wie beispielsweise Koordinationsübungen, durch oder beobachten, wie sie mit anderen Menschen interagieren. „Eine möglichst exakte und umfassende Beschreibung der Symptomatik hilft uns, seltene Erkrankungen besser zu verstehen und dieses Wissen weltweit verfügbar zu machen“, erläutert Schaaf.
An die humangenetische Diagnostik schließt sich eine fächerübergreifende Versorgung im UKHD an. „Bei seltenen Erkrankungen bietet die Genetik vielfach die beste Grundlage, um den Krankheitsverlauf vorherzusagen. Wir können unter anderem beraten, welche weitere Diagnostik und Therapie zu welchem Zeitpunkt sinnvoll sind, um den Verlauf positiv zu beeinflussen. Beispielsweise binden wir die Orthopädie ein, falls Kinder mit einer Erkrankung ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Skoliose haben, und bei Erkrankungen, die mit Krampfanfällen einhergehen können, wird ein enger Kontakt zur Kinderneurologie empfohlen“, verdeutlicht Prof. Dr. Maja Hempel, Leitung der Genetischen Poliklinik und Stellvertretende Ärztliche Direktorin des Instituts für Humangenetik.
In einigen Fällen lässt sich aus einer Genomsequenzierung auch auf eine mögliche Behandlung der Krankheits-Ursache schließen. Mehrere Kinder, bei denen das MYT1L-Syndrom diagnostiziert wurde, erhalten aktuell in einem individuellen Heilversuch das Medikament Lamotrigin, das bei Epilepsie zugelassen ist. Der Ansatz dazu stammt von Dr. Moritz Mall, der mit seinem Team am Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg erforscht, wie genau MYT1L auf molekularer Ebene funktioniert und was in den Nervenzellen bei einer Veränderung des Gens passiert. Sie hatten festgestellt, dass Lamotrigin sowohl in künstlich hergestellten menschlichen Nervenzellen mit MYT1L-Veränderung als auch bei Mäusen mit dem Syndrom die funktionellen Defekte und Verhaltensauffälligkeiten lindert. „Dieser Ansatz steht erst am Anfang und eine weitere Erprobung in systematischen Studien ist noch erforderlich. MYT1L zeigt allerdings bereits heute auf wunderbare Weise eine optimale Vernetzung von der Grundlagenforschung über die interdisziplinäre klinische Versorgung bis hin zu einer möglichen therapeutischen Relevanz“, fasst Schaaf zusammen.
Zu diesem Netzwerk gehört auch das Kinderzentrum Maulbronn (KIZE), das eng mit dem Universitätsklinikum Heidelberg kooperiert. Das KIZE bezieht dabei die Familien der Kinder gezielt in seine Arbeit mit ein.