Krebs-Kachexie: Leber als Treiber des Gewebeabbaus identifiziert
Viele an Krebs erkrankte Menschen verlieren dramatisch an Muskel- und Fettmasse. Oft ist sogar der Herzmuskel betroffen, was die Betroffenen zusätzlich schwächt. Dieses Auszehrungssyndrom, bekannt als Kachexie, betrifft rund die Hälfte aller Patient:innen. Es führt häufig zu Therapieresistenz, Komplikationen und erhöhter Sterblichkeit. Forschende von Helmholtz Munich haben jetzt gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Heidelberg, der Technischen Universität München und dem Deutschen Zentrum für Diabetesforschung einen bislang übersehenen Treiber der Kachexie erkannt: die Leber. Sie reagiert systemisch auf Tumore in anderen Organen – etwa im Darm oder in der Bauchspeicheldrüse – und trägt über spezifische Botenstoffe zum Gewebeabbau bei.
Das abgeschaltete Zeitgeber-Gen
Bei Kachexie wird der Leberstoffwechsel grundlegend umprogrammiert. So funktioniert insbesondere ein Gen nicht mehr, das normalerweise die Aktivität der Leber im Tagesverlauf reguliert. Die Forschenden fanden im Mausmodell heraus, dass diese „innere Uhr“ nahezu vollständig abgeschaltet war. „Nachdem wir das als REV-ERBα bezeichnete Gen gezielt in der Leber der betroffenen Mäuse reaktiviert hatten, hat sich der Körperabbau deutlich abgeschwächt“, sagt Dr. Doris Kaltenecker, die gemeinsam mit Dr. Søren Fisker Schmidt Erstautorin der Studie ist und am Institut für Diabetes und Krebs bei Helmholtz Munich forscht.
Leber-Botenstoffe treiben Kachexie voran
Die Forschenden konnten zeigen, dass REV-ERBα die Aktivität mehrerer Gene steuert, die für die Produktion bestimmter Leber-Botenstoffe verantwortlich sind. Fällt das Zeitgeber-Gen aus, produziert die Leber vermehrt krankheitsfördernde Signalproteine. Drei dieser sogenannten Hepatokine (LBP, ITIH3 und IGFBP1) stehen im Zentrum des neu entdeckten Mechanismus. Sie lösen in Zellkulturen katabolische, also abbauende Prozesse in Muskel- und Fettzellen aus – genau jene Vorgänge, die zur körperlichen Auszehrung führen. Auch im Blut kachektischer Patient:innen mit verschiedenen Tumorarten war die Konzentration dieser Proteine stark erhöht. In präklinischen Modellen konnte ihre schädliche Wirkung durch gezielte Hemmung abgeschwächt werden.
Perspektiven für Diagnose und Therapie
„Wir konnten erstmals zeigen, dass die Leber nicht nur passiv auf Kachexie reagiert, sondern aktiv zum Fortschreiten der Krankheit beiträgt“, sagt Dr. Mauricio Berriel Diaz, der die Studie bei Helmholtz Munich leitete. „Unsere Erkenntnis eröffnet neue Möglichkeiten, um das Syndrom genauer zu diagnostizieren und therapeutisch anzugehen.“ Zudem liefert die Studie eine umfassende Datenbasis zur Rolle der Leber bei Kachexie – von molekularen Netzwerken über zelltypspezifische Veränderungen bis hin zu funktionellen Auswirkungen in präklinischen Modellen. Damit steht der Forschungsgemeinschaft erstmals ein Datensatz zur Verfügung, der über das untersuchte Modellsystem hinaus nutzbar ist.
Langfristig könnten die identifizierten Faktoren als Biomarker für das Kachexie-Risiko dienen – oder als Ansatzpunkt für neue Therapien. „Gerade weil es bislang keine zugelassene Behandlung gegen Kachexie gibt, braucht es solche neuen Ansätze“, betont Prof. Stephan Herzig, Leiter des Helmholtz Diabetes Centers und des Instituts für Diabetes und Krebs bei Helmholtz Munich sowie Professor an der Technischen Universität München. „Die Ergebnisse zeigen eindrücklich, wie zentral systemische Wechselwirkungen zwischen Organen für den Verlauf von Krebserkrankungen sind.“