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Neurotoxikologische Gefahrenbewertung ohne Tierversuche

Mit tierversuchsfreien Methoden das Gefahrenpotential von Chemikalien für das Nervensystem von Ungeborenen bewerten? Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung Konstanzer und Düsseldorfer ToxikologInnen hat eine auf menschlichen Zellen basierende Testbatterie entwickelt, die das Potential besitzt, traditionelle Verfahren zur Erfassung der sogenannten Entwicklungsneurotoxizität abzulösen.

Die Entwicklung unseres Nervensystems im Mutterleib und während der ersten Lebensjahre ist ein hochkomplizierter Vorgang: Nervenzellen vermehren sich durch Zellteilung, spezialisieren sich, verändern ihre Position im Gewebe und verknüpfen sich untereinander zu Netzwerken aus unzähligen Zellen. Diese Komplexität macht die Entwicklung des Nervensystems jedoch auch anfällig, zum Beispiel für die schädliche Wirkung von Umweltgiften. Die negativen Folgen für die Funktion des Nervensystems werden dabei häufig erst später – im Kindes- oder Erwachsenenalter – offenbar.

Umso erstaunlicher, dass weltweit bisher weniger als 200 Substanzen nach den offiziellen Richtlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf ihre Entwicklungsneurotoxizität (developmental neurotoxicity; DNT) getestet wurden – trotz einer hohen Relevanz solcher Daten für die Verbrauchersicherheit. Naheliegende Gründe hierfür sind unter anderem die enormen Kosten von wenigstens einer Million Euro pro Substanz für DNT Studien, die an Tieren durchgeführt werden.

Eine Alternative zum Tierversuch bieten

Um bei gleichbleibender oder gar erhöhter Verlässlichkeit den Studienaufwand für die Gefahrenbewertung zu verringern, hat ein internationales Forschungsteam unter Führung von Marcel Leist (Universität Konstanz) und Ellen Fritsche (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und IUF) nun eine tierversuchsfreie Testbatterie zur Erfassung der DNT entwickelt und an 120 Substanzen getestet. „Darunter waren einige Stoffe, von denen bekannt ist, dass sie toxisch für das Nervensystem sind, wie bestimmte Pestizide oder Flammschutzmittel. Es waren aber auch als unbedenklich geltende Stoffe als Negativkontrolle dabei“, berichtet Fritsche, Professorin am IUF – Leibniz-Institut für Umweltmedizinische Forschung (IUF) in Düsseldorf.

Die Ergebnisse dieser umfangreichen Studie wurden gerade in der Fachzeitschrift Chemosphere veröffentlicht und sind äußerst vielversprechend: Sie zeigen, dass die sorgfältig zusammengestellte Testbatterie technisch umsetzbar ist und bereits eine Messempfindlichkeit besitzt, die Tierversuchen ebenbürtig ist. So schlug sie bei über 80 Prozent der bekannten Neurotoxikantien unter den getesteten Substanzen Alarm, jedoch bei keinem der als unbedenklich eingestuften Stoffe, die als Kontrolle dienten. „Wir haben allerdings auch ‚Lücken‘ in unserer Testbatterie entdeckt und nennen in unserem Artikel bereits Möglichkeiten, um welche Testverfahren die Batterie erweitert werden könnte, um diese zu schließen“, so Jonathan Blum, Erstautor der Studie und Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Leist am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz.

Höhere Relevanz für den Menschen

Sämtliche in die Batterie aufgenommenen Testverfahren basieren auf Zellkulturen. Sie finden also nicht am lebenden Organismus, sondern „im Reagenzglas“ (in vitro) statt. Mehr noch, alle Tests der Batterie nutzen menschliche Zellen. „Dadurch steigt im Idealfall die Aussagekraft der Testverfahren im Vergleich zum Tierversuch, da die jeweiligen Ergebnisse nicht von einem Tiermodell, wie Maus oder Ratte, auf die für den Menschen relevanten Vorgänge übertragen oder erweitert werden müssen“, erklärt Fritsche einen der potentiellen Vorteile der Verwendung menschlicher Zellen.

Weitere allgemeine Vorteile derartiger in vitro-Verfahren, die gemeinsam mit anderen Alternativmethoden zum klassischen Tierversuch in der Toxikologie als „new approach methods“ (NAMs) bezeichnet werden, sind die vergleichsweise geringen Kosten und die Möglichkeit, in Hochdurchsatzverfahren deutlich mehr Substanzen auf ihre Toxizität zu testen, als dies im selben Zeitraum im Tierversuch möglich wäre. NAMs sind daher ein wichtiger Teil aktueller Konzepte für eine zukunftsfähige Risikobewertung – sowohl von wissenschaftlichen als auch regulatorisch tätigen Stellen.

Besonders nötig ist dies angesichts von tausenden von Industriechemikalien, die zu über 1000 Tonnen pro Jahr produziert werden und trotzdem noch nicht getestet wurden. Die in der aktuellen Studie gewonnen Erkenntnisse spielen dabei ganz direkt eine wichtige Rolle, wie Andrea Terron bestätigt, der für die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) in Parma tätig ist und an der Studie beteiligt war: „Die Studie ist ein Eckpfeiler unserer Strategie bei der EFSA, DNT-Daten für die Risikobewertung aus humanrelevanten In-vitro-Tests zu gewinnen und zu nutzen.“

Anwendung im regulatorischen Kontext

Eine erste konkrete Anwendungsmöglichkeit für ihre Testbatterie sehen die Forschenden in deren Verwendung für ein Screening der Vielzahl an Pestiziden und Substanzen aus der Wohn- und Arbeitsumwelt, für die heute nur unzureichende oder gar keine DNT-Daten vorliegen. Tatsächlich gehen auch wichtige internationale Organisationen schon jetzt erste Schritte in Richtung Einbindung und Nutzung der Testbatterie für regulatorische Zwecke – darunter die OECD. „Die Ergebnisse der Studie wurden von den OECD-Mitgliedsländern ausgiebig diskutiert und bilden die Grundlage für den Entwurf eines Leitfadens zur Interpretation der mithilfe der DNT-In-vitro-Batterie gewonnenen Daten“, berichtet Magdalini Sachana von der OECD.

Die Testbatterie könnte so zum Beispiel bei der Wiederzulassung eines Pestizids in der EU Gefahrendaten für die zu bewertende Substanz liefern, die im besten Fall bereits eine abschließende Beurteilung bezüglich der DNT erlauben. „Sind die Daten nicht abschließend aussagekräftig, würde man zusätzliche Tests anschließen, wie zum Beispiel die von uns vorgeschlagenen Erweiterungen unserer Testbatterie“, erläutert Blum ein mögliches Vorgehen.

Eine neue Allianz der StudienautorInnen mit weiteren Europäischen Partner*innen zur Weiterentwicklung der Testbatterie wird bereits von der Europäischen Kommission gefördert, und die geplanten Arbeiten schließen auch Beiträge der US Umweltbehörde mit ein. Um die Tests auch für EndnutzerInnen, wie zum Beispiel die Pflanzenschutzmittelindustrie, zugänglich zu machen, hat das Team um Ellen Fritsche kürzlich das Start-up DNTOX gegründet.

Publikation:
Jonathan Blum et al. (2022) Establishment of a human cell-based in vitro battery to assess developmental neurotoxicity hazard of chemicals. Chemosphere; DOI: https://doi.org/10.1016/j.chemosphere.2022.137035.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/pm/neurotoxikologische-gefahrenbewertung-ohne-tierversuche