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Ohne Umwege ins Langzeitgedächtnis

Svenja Brodt erforscht mittels MRT-Bildern des Gehirns, wie Eindrücke zu Erinnerungen werden. Ein besseres Verständnis davon, wie Langzeiterinnerungen entstehen, könnte Alzheimerpatient*innen bei der Alltagsbewältigung helfen. Störungen der Erinnerungsbildung könnten durch gezieltes Wiederholen kompensiert werden.

Wieso können viele Demenzerkrankte sich oft noch lebhaft an ihren Schulweg als Kinder erinnern, finden aber den Weg zu ihrer aktuellen Wohnung nur noch schwer? Werfen wir dafür zunächst einen Blick ins gesunde Gehirn. Wenn wir etwa eine neue Nachbarin im Hausflur treffen, gelangen die Informationen über ihr Gesicht zunächst in den Hippocampus. Dieser Arbeitsspeicher, tief im Gehirn verborgen, leitet die Eindrücke weiter an ihren dauerhaften Speicherort in der Großhirnrinde. Nach der ersten Begegnung wiederholt der Hippocampus das viele Male – automatisiert, unbewusst und meist im Schlaf – bis das Aussehen der Nachbarin schließlich fest verankert ist.

Genau dieser Mechanismus ist bei Alzheimerpatient*innen gestört: Bereits in einem frühen Stadium der Erkrankung lässt die Fähigkeit nach, neue, bleibende Erinnerungen zu bilden. Grund dafür ist, dass Nervenzellen im Hippocampus degenerieren: Während der Neokortex durchaus noch in der Lage wäre, Neues aufzunehmen, fehlt ihm die kontinuierliche Reaktivierung durch den Hippocampus. Mögliche Folgen: Die Erkrankten vergessen wichtige Termine, können ihren Alltag nur noch mit Merkzetteln organisieren oder finden sich in der eigenen Wohnung nicht mehr zurecht.

Erinnerungen im Gehirn sichtbar machen

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Möglicherweise ist der Hippocampus nicht ganz so unverzichtbar für die Gedächtniskonsolidierung wie bislang angenommen; unter den richtigen Bedingungen kann die Großhirnrinde auch selbständig schnell lernen. Das konnte Svenja Brodt, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, in mehreren Studien mithilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie (MRT) nachweisen. Dieses nichtinvasive Bildgebungsverfahren kann diejenigen Hirnareale aufleuchten lassen, die gerade mehr Sauerstoff verbrauchen, also besonders aktiv sind. So können die Forschenden sehen, welche neuronalen Schaltkreise von einem Stimulus angesprochen werden.

„Wir haben gesunde Versuchspersonen gebeten, sich Bilder einzuprägen. Diese Lerninhalte haben wir sie dann innerhalb kurzer Zeit aktiv wiederholen lassen“, beschreibt Brodt ihr Vorgehen. „Schon während der Lernphase beobachten wir im MRT gesteigerte Aktivität im Neokortex.“ Das bedeutet: Bereits während des aktiven Lernens scheinen sich die Inhalte ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Eine etwas andere MRT-Methode macht anschließend sogar erkennbar, ob das Lernen dauerhafte Spuren im Gehirn hinterlässt: „Bereits nach einer Stunde können wir dort Veränderungen in der Mikrostruktur erkennen, die darauf hinweisen, dass hier die Erinnerung an das Bild gespeichert ist“, fährt Brodt fort. „Diese Veränderungen sind auch Stunden später noch nachzuweisen.“ Die Großhirnrinde lernt also dank Wiederholungen schnell – und kann vielleicht sogar auf das langwierige automatisierte Training durch den Hippocampus verzichten.

Von der Fotokamera direkt in die Großhirnrinde

Dieser Mechanismus zeigt Wege auf, wie Alzheimerpatient*innen möglichst lange ihr Leben selbständig meistern können: Wenn Betroffene neue Informationen wenige Stunden später aufrufen, reaktivieren sie deren Spur im Gehirn. Schon jetzt verwenden manche Menschen mit Demenzerkrankungen sogenannte Lifelogging-Geräte. Das sind oftmals kleine, am Körper getragene Kameras, die automatisch Fotos aufnehmen. Wenn Erkrankte am Ende des Tages die Bilder betrachten, prägen sie sich die Informationen darauf ein. Durch Lifelogging wird so die nachlassende Gedächtnisleistung nicht nur kompensiert, sondern im Gegenteil sogar angekurbelt.

Als Nächstes möchte Brodt die Bedingungen für die schnelle Gedächtnisbildung in der Großhirnrinde genauer untersuchen, etwa wie oft und wann genau das Gelernte am besten reaktiviert werden sollte. „Offen ist auch noch, inwiefern sich so gebildete Gedächtnisinhalte von ‚normalen‘ Erinnerungen unterscheiden“, so Brodt. „Wie stabil und präzise sind sie wirklich? Können wir sie gut mit anderen Informationen verknüpfen?“

Deutlich ist schon jetzt: Der Mechanismus funktioniert für verschiedenste Arten von Gedächtnisinhalten. Für die Begegnung mit der neuen Nachbarin heißt das: Egal ob Name oder Gesicht, wir können alle Informationen durch aktives Wiederholen abspeichern – eventuell auch dann noch, wenn wir uns irgendwann nicht mehr auf den Hippocampus verlassen können.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/pm/ohne-umwege-ins-langzeitgedaechtnis