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Interview mit Dr. Janina Beha

„Wir sind die Schnittstelle zwischen Innovation, Forschung und Regelversorgung“

Maßgeschneiderte Therapien dank molekularer Diagnostik – auf diesem Gebiet leisten die vier Zentren für Personalisierte Medizin (ZPM) in Baden-Württemberg Pionierarbeit: Die Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm verfolgen gemeinsam das Ziel, Personalisierte Medizin fest in der Patientenversorgung zu etablieren. Über Erfolge und Zukunftspläne spricht Dr. Janina Beha, Vize-Geschäftsführerin des ZPM Tübingen, im Interview.

Wie funktioniert Personalisierte Medizin?

Dr. Beha: Bei der Personalisierten Medizin versucht man, maßgeschneiderte Therapien anzubieten, die für jeden die optimale Behandlungsstrategie zum richtigen Zeitpunkt darstellen. Dazu werden möglichst verschiedene Parameter bei der Therapieentscheidung berücksichtigt: molekulare Marker – wie beispielsweise Informationen auf genetischer Ebene –, aber auch die Lebensweise oder bildgebende Diagnoseverfahren. Das kann im Idealfall ein breites Spektrum sein, um für jeden Patienten die optimale, möglichst effektive und nebenwirkungsarme Therapie zu finden.

Können Sie Ihre Ziele anhand des Bereichs Onkologie einmal näher erklären?

Dr. Beha: Das Ziel ist, die Behandlung von Krebserkrankungen durch den Einsatz innovativer, zielgerichteter Therapieansätzen zu verbessern. Dabei sollen Nebenwirkungen möglichst reduziert und unwirksame Therapien von vornherein vermieden werden. Im Bereich der Onkologie spielt insbesondere die genetische Tumordiagnostik eine große Rolle und die darauf gestützte Biomarker-basierte Therapie. Kurz zur Erläuterung: Biomarker ist der Überbegriff für alle messbaren Eigenschaften eines Tumors. Ihre Bestimmung gibt uns Aufschluss zur Krankheitssituation, zum anzunehmenden Krankheitsverlauf und zur Wirksamkeit von Behandlungen.

Wir versuchen, auf der molekularen genetischen Ebene die Erkrankungen zu charakterisieren und Ähnlichkeiten ausfindig zu machen, die wir auch in ähnliche Therapien überführen können. Schlussendlich erhofft man sich auch gesundheitsökonomisch positive Effekte dadurch, dass potenziell unwirksame Therapien leichter vermieden werden können.

Was hat das ZPM im Bereich Onkologie schon erreicht?

Dr. Beha: Ein zentrales Element am ZPM ist das molekulare Tumorboard (MTB). Das ist eine Versorgungsstruktur, in der zwischen verschiedenen Fachbereichen zusammengearbeitet wird. Das MTB schließt nicht nur die Kliniker ein, sondern auch Humangenetiker, Pathologen, Radiologen, Bioinformatiker, Molekularbiologen, die ihre Expertise bündeln, um die molekulare Diagnostik zu interpretieren. Das sind sehr komplexe Befunde. Um aus diesen, in erster Linie genetischen Untersuchungen eine individuelle Therapieentscheidung für den Patienten ableiten zu können, wurde das MTB etabliert.

Haben bei den Patienten, die zu Ihnen kommen, andere Krebstherapien zuvor versagt?

Dr. Beha: Ja. Beim ZPM-Konzept in Baden-Württemberg geht es zunächst darum, Patienten, die die leitliniengerechten Therapien schon durchlaufen haben, neue Therapiemöglichkeiten anbieten zu können. Wenn die Standardtherapien ausgeschöpft sind, versuchen wir, nochmal ein bisschen genauer hinzuschauen: Welche Eigenschaften hat der Tumor – gibt es da molekulare Zielstrukturen, an denen eine Therapie effizienter ausgerichtet werden kann als die herkömmlichen Therapien? Dementsprechend versuchen wir auch, unser Angebot und das Angebot an klinischen Studien kontinuierlich auszuweiten und den Zugang für Patienten im ganzen Land so einfach wie möglich zu gestalten. Wir befinden uns hier an der Schnittstelle zwischen Innovation, Forschung und Regelversorgung und möchten den Patienten neue Technologien und Therapeutika zugänglich machen. Perspektivisch wird es vermutlich so sein: Wenn wir sehr wirksame Therapieansätze bei uns ermitteln, könnten diese eines Tages in die Leitlinientherapien mit aufgenommen werden bzw. diese ablösen.

Wie wollen Sie eine größere Zugänglichkeit des ZPM-Angebots für mehr Patienten erreichen?

Dr. Beha: Ein Schritt wurde schon erreicht: Unser Zentrum wurde 2019 krankenhausplanerisch nach Sozialgesetzbuch ausgewiesen. Damit wurde uns die Möglichkeit geschaffen, unsere Leistungen auch im kassenfinanzierten System abzubilden. Es ist außerdem ein wichtiger Schritt gewesen, dass ein Baden-Württemberg-Verbund der ZPM aufgebaut wurde: An den Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Ulm und Tübingen wurden ähnliche Zentrumsstrukturen etabliert, die in die jeweiligen Klinikstrukturen eingebettet sind. Die molekularen Tumorboards wurden zwischen den ZPM harmonisiert, um ein qualitätsgesichertes Versorgungsangebot sicherzustellen. Dass im Bereich der hochdimensionierten Molekulardiagnostik zunehmend auch ein Angebot kommerzieller Art vorhanden ist, das kann für den Patienten recht verwirrend sein. Daher wollten wir mehr Transparenz reinbringen. Vor allen Dingen wollten wir eine vergleichbar hohe Qualität und Anbindung an klinische Strukturen sicherstellen.

Nun soll neben der Onkologie ein weiteres Einsatzgebiet hinzukommen. Welches ist das?

Dr. Beha: Das ist der Bereich der entzündlichen Erkrankungen. Hier hat man sich bisher auf drei Modellerkrankungen fokussiert: die entzündlichen Darmerkrankungen, die Psoriasis (Schuppenflechte) und rheumatische Erkrankungen. Im Unterschied zur Onkologie hat man hier keine Palliativpatienten, sondern Patienten mit langen chronischen Verläufen, die eine stark eingeschränkte Lebensqualität und Leistungsfähigkeit haben. Hier gibt es einen starken Bedarf, Therapieschemata zu optimieren. Dazu werden auch Biomarker erhoben, die dann die Basis für die darauffolgenden Therapieentscheidungen bilden.

Wie sieht die Ideal-Zielvorstellung des ZPM-Netzwerks aus?

Dr. Beha: Perspektivisch würden wir gern so viele automatisierte Datenflüsse wie möglich zwischen den ZPM und den Kliniken aus der Region, aus denen Patienten zu uns kommen, einrichten. Um unsere Datenbank mit molekularen Daten in Kombination mit den Therapieverlaufsdaten zu befüllen, brauchen wir eine strukturierte Datenerfassung gemäß unserer einheitlichen Datensätze.

Zudem gib es nationale Aktivitäten, ein deutschlandweites Netzwerk an Zentren für Personalisierte Medizin zu etablieren. Das wird über das Innovationsfonds-Projekt „Deutsches Netzwerk Personalisierte Medizin DNPM“ gefördert. An verschiedenen Standorten der onkologischen Spitzenforschung in Deutschland werden derzeit ZPM-Strukturen aufgebaut. Hier besteht auch die Chance, eine noch größere Datengrundlage zu schaffen, so dass wir aus noch mehr Gesundheitsdaten lernen können für die Zukunft. Es ist auch im Gespräch, in die Bereiche Infektiologie, Neurologie oder Altersmedizin vorzudringen, um da die Ansätze der personalisierten Versorgung ebenfalls anbieten zu können.

Zum Projekt:

An den ZPM wird ein breites Spektrum an Tumorerkrankungen ausgewertet. Vielfach handelt es sich um Krebserkrankungen des Magen-Darm-Traktes, um Fälle aus der Neuro-Onkologie, der Dermatoonkologie und der gynäkologischen Onkologie. Die Fallzahlen, die derzeit in den molekularen Tumorboards besprochen werden, liegen bei mehr als 500 pro ZPM pro Jahr – Tendenz steigend. Für 70 bis 80 Prozent der Patientinnen und Patienten kann auf Basis der molekularen Untersuchungen eine weiterführende Therapieoption identifiziert werden. Die Kooperationspartner der ZPM nehmen kontinuierlich zu: Am ZPM Tübingen beispielsweise sind es momentan mehr als zehn verschiedene Städte in der Region, deren Kliniken Patientinnen und Patienten dem MTB zuweisen.

Das Projekt wird unter dem Dach des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg seit 2020 mit insgesamt mit rund 15,4 Millionen Euro durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration gefördert.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/pm/wir-sind-die-schnittstelle-zwischen-innovation-forschung-und-regelversorgung