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Experteninterview

Health Data Scenarios – Viele Möglichkeiten für die Zukunft?

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens schreitet langsam, aber stetig voran. Neben einfachen telemedizinischen Anwendungen stellen Daten, zum Beispiel in Form einer elektronischen Patientenakte, die Basis einer Digitalisierung dar. Das Schweizer Projekt „Health Data Scenarios“ will mithilfe von Szenarien die Zukunft der Gesundheitsdaten modellieren. Lucas Scherdel, Director Healthcare Innovation – DayOne, einer Initiative von Basel Area Business & Innovation, und Dr. Alexander Fink, Gründer und Vorstand der ScMI AG, erklären im Interview mit Dr. Ariane Pott für BIOPRO, wie dies funktionieren kann.

Was war der Antrieb für das Projekt?

Porträtfoto eines Mannes mit Bart mit einem hellblauen Hemd und einem schwarzen Jacket.
Lucas Scherdel ist Director Healthcare Innovation – DayOne. © Basel Area Business & Innovation

Scherdel: In den zahlreichen Diskussionen über digitale Innovationen im Gesundheitswesen stehen meist der fehlende Zugriff auf Daten und deren Inkompatibilität, die Angst vor Missbrauch sowie die damit einhergehenden Regularien im Vordergrund. Die technischen Anforderungen sind zudem komplex, sodass es sehr schwerfällt, den Ansprüchen aller beteiligten Gruppen gerecht zu werden. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass es ohne Daten kaum Innovation geben wird. Wir dürfen den Markt aber nicht den großen Unternehmen oder dem Staat überlassen, denn damit wäre die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger in Gefahr. Wir benötigen also einen gemeinsamen offenen Prozess, einen Konsens, der allen gerecht wird. Eine gute Möglichkeit ist es, gemeinsam Szenarien zu entwickeln, um verschiedene mögliche Zukünfte gemeinsam zu betrachten und sich der Konsequenzen der einzelnen Szenarien bewusst zu werden.

Fink: Ich kann die Zukunft nicht exakt vorhersagen, und ab dem Punkt, an dem ich mich auf nur eine Zukunft konzentriere, verliere ich automatisch verschiedene Optionen und enge den Blick viel zu sehr ein. Daher ist es der Ansatz von Szenarien, zunächst einmal systematisch mögliche Zukünfte zu entwickeln. Das Themenfeld „Health Data“ ist dafür besonders prädestiniert, weil es so viele Aspekte gibt, die zusammenwirken.

Wie entwickelt man solche Szenarien?

Porträtfoto eines freundlich schauenden Mannes mit Vollbart mit weißem Hemd und einem dunkelgrauen Jacket.
Dr. Alexander Fink ist Gründungsinitiator und Vorstand der ScMI AG. © ScMI AG

Fink: Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass die Szenarien nicht im stillen Kämmerlein entstehen, es ist also kein Studienergebnis. Die Szenarien sind das Resultat einer Gruppe von Experten und Innovatoren, die systematisch durch uns angeleitet diese Szenarien entwickelt haben.

Die Entstehung erfolgt in drei Schritten: Im ersten Schritt identifiziert man die Schlüsselfaktoren, also Themen- und Fragestellung, für die man in den Szenarien eine Aussage haben möchte. Dabei darf man den Fokus nicht zu eng wählen, also nicht zu datenspezifisch, sondern es müssen alle Größen einbezogen werden, die darauf Einfluss nehmen könnten. Wir haben eine breite Perspektive gewählt, um diese Schlüsselfaktoren festzulegen.

Wenn man diese „Fragen an die Zukunft“ gestellt hat, entwickelt man im zweiten Schritt sogenannte Zukunftsprojektionen, also mögliche Antworten auf die Fragen. Man beschreibt, wie sich ein Schlüsselfaktor innerhalb der nächsten zehn Jahre entwickeln könnte. Wie könnte sich die Stellung von Patientinnen und Patienten verändern, wie könnte sich die Rolle von Technologiekonzernen gestalten, oder wie entwickelt sich der Datenschutz?

Eine farbige kreisförmige Darstellung verschiedener Scenarioarten: 1a-c: Graduelle Entwicklung des Gesundheitssystems, 2 a-b: Der Wandel des Gesundheitssystems entsteht durch kulturelle Entwicklung, 3a-c: Der Wandel im Gesundheitssystems entsteht durch innovative Technologien und die Änderung des kulturellen Bewusstseins, 4a-b: Technologiegetriebene Veränderungen im Gesundheitssystem
Einordnung der verschiedenen Szenarien. © Basel Area Business & Innovation, textlich angepasst durch Dr. Ariane Pott

Im dritten Schritt werden diese einzelnen Projektionen miteinander verknüpft. Das Wesentliche dabei ist, dass dies nicht nach Wahrscheinlichkeit oder Vorlieben geschieht, sondern nach Plausibilität. Die Elemente, die zusammenpassen, können auch ein Szenario bilden. Daher kann es Szenarien geben, die man nicht sofort erwartet oder solche, die ausgesprochen unangenehm sind. Wir wollen den ganzen Möglichkeitsraum aufspannen. Auf diese Art und Weise entstehen erstens einzelne Zukunftsbilder, in die man sich hineinversetzen kann, und die einen Eindruck davon vermitteln, wie eine Zukunft aussehen könnte. Zweitens entsteht eine Art Landkarte der verschiedenen Szenarien. Das war das erste Ergebnis, welches wir vorliegen hatten: einzelne Szenarien, die in sich stimmig und schlüssig sind, in die man sich eindenken kann und eine Übersicht der Möglichkeiten, wie sich Health Data innerhalb seiner Umfelder entwickeln könnte (s. Abb.: Einordnung der verschiedenen Szenarien).

Was man an dieser Stelle aber noch nicht hatte, waren Wahrscheinlichkeiten, also Einschätzungen, wohin es geht – und auch noch keine Präferenzen. Das heißt, dieser Szenarioentwicklung schließt sich noch der Prozess der Szenariobewertung an. Wir haben die Expertinnen und Experten daher gefragt, welches die Szenarien wären, mit denen man rechnet, oder die man sich wünscht, und bei welchem Szenario man sich heute befindet.

Was sind die Ergebnisse der Entwicklung und ersten Bewertung?

Hervorhebung des Scenarios 3a, in welchem folgende Kriterien erfüllt sind: Bürger sind Inhaber der Daten, offene Infrastruktur, hohes Vertrauen, breite Daten-Wertschöpfungskette, hohe Standardisierung.
Wunschszenario 3a © Basel Area Business & Innovation, textlich angepasst durch Dr. Ariane Pott

Scherdel: Wir sind mit unserem Projekt auf offene Ohren gestoßen und konnten 50 Expertinnen und Experten gewinnen, die in vielen Arbeitsstunden die eben angesprochene Szenario-Landkarte entwickelt haben. Durch die gemeinsame Arbeit hat dieses Expertennetzwerk auch eine gemeinsame Sprache gefunden, sodass wir eine sprachliche Grundlage für die weiteren Analysen haben. Wir wissen nun auch, welche Ziele und Vorstellungen die einzelnen Gruppierungen haben, und worin sie sich unterscheiden. Eine erste Bewertung hat gezeigt, dass es ein Wunschszenario aller Anspruchsgruppen gibt: das Szenario 3a. Dieses ist jedoch gleichzeitig auch am weitesten weg vom jetzigen Zustand, und wir werden in den weiteren Sitzungen sehen, ob sich dieser Wunsch bis zum Ende des Jahres bestätigt. Denn die Hürden für dieses Szenario sind natürlich auch am höchsten.

Fink: Das war für uns auch ein spannendes Ergebnis, dass ein sehr großer Veränderungswunsch im Gesundheitssystem existiert. Die wirkliche Veränderungsebene bezieht sich dabei gar nicht auf die Technologien, sondern auf Kultur und Prozesse. Diesen Veränderungswunsch gab es unabhängig davon, ob Expertinnen und Experten aus der Industrie, dem öffentlichen Bereich oder aus dem Bereich der Leistungserbringer stammten. Und es ist in der Tat das Spannende, das Ergebnis zu validieren und zu untersuchen, wie es sich verhält , wenn man auf die konkreten Fragestellungen schaut, und ob es sich an bestimmten Stellen relativiert oder verstärkt. Denn daraus ergeben sich Veränderungsanforderungen auf den unterschiedlichsten Ebenen, und diese wären der Anknüpfungspunkt für strategische Überlegungen aus Bereichen wie Verbänden, Politik, Region oder Unternehmen.

Scherdel: Abschließend war es für mich recht überraschend, dass dieses Szenario als Best Practice gewählt wurde. Denn um es umzusetzen, wird es einen kulturellen Wandel geben müssen. Da der Gesundheitsbereich ansonsten häufig technologie- und wissenschaftsgetrieben ist, wird diese menschenzentrierte kulturelle Veränderung eine Herausforderung sein.

Wie wird nun weiter vorgegangen?

Scherdel: Wir bewerten die Szenarien nun aus Sicht der verschiedenen Stakeholder. Insgesamt sind bis jetzt 80 Expertinnen und Experten aus unserem Umkreis und dank BIOPRO noch einige aus Baden-Württemberg zusammengekommen. Wir haben vier verschiedene Gruppen zusammengestellt:

1) Forschung/Entwicklung

2) Versorger: Wie gelangen Innovation und neue Technologien basierend auf Daten zu Patientinnen und Patienten und zu Bürgerinnen und Bürgern?

3) Start-ups: Wie können wir das Innovationsgeschehen in unserem Ökosystem beschleunigen?

4) Breite Öffentlichkeit: Sicht von Patientengruppierungen, Politik und Verbänden. Die Mitglieder dieser 4. Gruppe müssen die neuen Regularien, falls diese notwendig sein sollten, durchsetzen bzw. vorantreiben.

In diesen vier Gruppierungen haben wir uns zudem nach den dringendsten Fragestellungen erkundigt. Ein wichtiges Thema ist die Prävention. Denn in unserem bisherigen Gesundheitssystem sind präventive Maßnahmen unterrepräsentiert. Die Menschen gehen in der Regel erst zum Arzt, wenn Sie bereits krank sind. Daher haben wir die Frage gestellt, welches Szenario die Prävention erleichtern würde. Dazu gehört auch die Frage, in welchem Szenario die Betroffenen auch Daten an das System liefern würden. Anhand von vier Szenarien werden wir diese Fragestellung durchspielen. Unser Ziel ist es, dies bis zum Herbst dieses Jahres mit insgesamt 12 Fragestellungen durchzuführen.

Fink: Wir nutzen diese Szenarien und die Landkarte als Ordnungsraster und blicken mit den verschiedenen Stakeholdern und unterschiedlichen Fragestellungen darauf. Und das ist natürlich noch einmal ein spannender Prozess. Das Wichtigste dabei sind die Interaktion der Beteiligten und der Blickwinkel auf bestimmte Szenarien, um aus dem normalen Denken herauszukommen.

Welche Zielsetzungen haben Sie mit dem Projekt?

Scherdel: Auf jeder Ebene und in jeder Interessensgruppierung gibt es verschiedene Zielsetzungen. So können zum Beispiel Unternehmen ihre Tätigkeiten auf ein bestimmtes Szenario ausrichten. Für Verbände und die Politik ist es von Interesse, die Maßnahmen so zu gestalten, dass bestimmte Szenarien nicht eintreten. Als Nächstes wäre noch die Innovationslandschaft in der Nordwestschweiz und Südwestdeutschland zu nennen: Es wird vermutlich in einigen Szenarien Innovationslücken geben, die von angehenden Start-ups befüllt werden könnten. Vielleicht treiben aber auch Industrieverbände oder Konsortien die Innovation voran.

Fink: Ich kann einen Punkt noch ergänzen. Eine Szenario-Bewertung ist nicht starr, denn wenn ich heute etwas bewerte, heißt das nicht, dass ich in zwei bis drei Jahren die gleiche Sicht auf die Zukunft habe. Vielleicht haben sich meine Position, Erwartungen und Präferenzen verändert. Insofern werden wir die Szenarien und die Landkarte von Zeit zu Zeit erneut bewerten, um unsere Entscheidung nachzujustieren. Und manchmal ergeben sich auch plötzliche Ereignisse, die dafür sprechen, eine Bewertung zu erneuern oder sogar die Szenarien.

Wie soll es in den nächsten Jahren nun weitergehen?

Scherdel: Im Jahr 2021 validieren wir die Szenarien, sodass wir sehr wahrscheinlich am Ende des Jahres eine Gewichtung und auch die Lücken sehen werden. Im kommenden Jahr, also 2022, wollen wir auf diesen Lücken aufbauend mögliche Projekte identifizieren und priorisieren, die im dritten, abschließenden Jahr über die Grenze hinweg in Arbeitsgruppen konkret angegangen werden sollen.

Information zum Projekt „Health Data Scenarios“

Das Projekt „Health Data Scenarios“ wurde im Jahr 2020 von DayOne ins Leben gerufen. DayOne ist die Initiative für Innovationen im Gesundheitsbereich von Basel Area Business & Innovation, der Agentur für Standortpromotion und Innovationsförderung. Das Projekt erhält seit dem Jahr 2021 eine Förderung für drei Jahre im Rahmen der neuen Regionalpolitik (NRP), mit der unter anderem die Entwicklung der Grenzregionen der Schweiz gefördert wird. Projektpartner sind seit dem Jahr 2020 die ScMI AG und Blauen Solution GmbH. Im Jahr 2021 ist die BIOPRO Baden-Württemberg GmbH als Projektpartner mit den assoziierten Partnern Baden-Württemberg: Connected e.V. (bwcon), Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH & Co. KG, Pfizer Deutschland GmbH und dem Universitätsklinikum Freiburg hinzugestoßen.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/health-data-scenarios-einen-blick-viele-moegliche-zukuenfte-werfen