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Epigenetik – Vererbung ohne Änderung der DNA-Sequenz

Die früher heftig umstrittene Epigenetik, die Vererbung von Eigenschaften, ohne dass die DNA-Sequenz verändert wird, steht heute im Zentrum biologischer Forschung. Sie ist Gegenstand zahlreicher nationaler und internationaler Forschungsprogramme. Viele zelluläre Regulations- und Differenzierungsprozesse werden durch epigenetische Mechanismen gesteuert, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielen – wie der DNA, der Histone, Nukleosomen und der Chromatinfaltung.

Computersimulation eines Nukleosoms; Frontal- und Seitenansicht © K. Rippe, DKFZ

Die Epigenetik ist während der letzten Jahrzehnte von einem in der Fachwelt heftig umstrittenen – allenfalls als bizarre Ausnahme akzeptierten – Randphänomen zu einem Brennpunkt der zell- und molekularbiologischen Forschung und Gegenstand vieler hundert wissenschaftlicher Publikationen jährlich herangewachsen. Man hat epigenetische Mechanismen inzwischen in fast allen Zellen gefunden, in denen danach gesucht wurde. Sie spielen bei den zellulären Regulationsmechanismen eine wichtige Rolle, sie steuern grundlegende Differenzierungsprozesse in den Zellen, tragen zur Vielfalt der Variationen bei und sind entscheidend an der Individualentwicklung der Organismen – von der Embryogenese bis zum Alternsprozess und Tod – beteiligt.

Unter Epigenetik versteht man die Vererbung veränderter Genfunktionen ohne Änderung der DNA-Sequenz. Epigenetische Modifikationen können durch Umweltfaktoren hervorgerufen werden. Die Erbitterung, mit der der wissenschaftliche Streit darüber ausgetragen wurde, rührt vor allem daher, dass epigenetische Eigenschaften nicht nur durch normale Zellteilungen (Mitosen) auf die Tochterzellen übertragen werden können, sondern in manchen Fällen auch über die Reifeteilung (Meiose) hinweg auf die Keimzellen und damit auf nachfolgende Generationen. Das heißt, der im 20. Jahrhundert mühsam errungene Sieg der Darwinschen Selektionstheorie über die von Lamarck vor über 200 Jahren postulierte „Vererbung erworbener Eigenschaften“ muss relativiert werden und die für unüberwindlich gehaltene Barriere zwischen einer Vererbung in der Keimbahn (Eizellen und Spermien) und im Soma (Körperzellen) wird durchlässig. Es scheint so, dass es gerade bei hoch entwickelten Organismen wie den Säugtieren ein besonders komplexes Instrumentarium epigenetischer Mechanismen gibt.

Die verschiedenen Ebenen des Epigenoms

Array der DNA-Methylierungen von Normalgewebe (N) und Tumoren (T) der Prostata © C. Plass, DKFZ

Epigenetische Modifikationen erfolgen auf verschiedenen Organisationsebenen, die der Basensequenz der DNA – der Ebene des klassischen genetischen Codes und der Genveränderungen durch Mutationen – überlagert sind. Alle epigenetischen Veränderungen zusammen bilden das Epigenom. Einer der wichtigsten epigenetischen Regulationsmechanismen ist die Übertragung einer Methylgruppe auf die DNA-Base Cytosin durch bestimmte Enzyme, sogenannte Methyltransferasen. Dadurch kann die betreffende Gensequenz nicht mehr abgelesen werden. Diese Methylierungen sind nur möglich – zumindest beim Menschen und anderen Säugetieren – wenn auf das Cytosin (C) ein Guanin (G) folgt. Derartige CG-Sequenzen kommen im menschlichen Genom etwa 30 Millionen Mal vor; ein großer Teil davon ist methyliert. Bei Krebszellen findet man oft ein von den Normalzellen stark abweichendes Methylierungsmuster. In einigen Fällen könnte die Krebsentstehung ursächlich mit einer Stilllegung von Tumorsuppressorgenen (wie dem p53) durch Methylierung zusammenhängen, in anderen Fällen zeichnet sich der Krebsprozess eher durch einen Mangel an Methylgruppen aus.

Eine zweite Ebene der Epigenetik stellen die Histonproteine dar, die in den Nukleosomen als Komplex von acht Molekülen vorliegen, um den jeweils 147 Basenpaare der DNA gewickelt sind. An den aus den Nukleosomen heraushängenden Aminosäure-Schwänzen werden durch spezifische Enzyme bestimmte chemische Gruppen wie Acetyl-, Methyl- , Phosphat- oder Ubiquitinreste angelagert oder abgespalten, wodurch sich die Verpackungsdichte der DNA verändert und die Aktivität der betroffenen Gene moduliert werden kann. Dieses Modifikationsmuster der Histone wird bei der Mitose an die Tochterzellen vererbt und ist einer der grundlegenden Mechanismen für die unterschiedliche Differenzierung von Körperzellen. Die Gesamtheit der epigenetischen Histonmodifikationen und ihrer Funktionen bezeichnet man als Histon-Code.

Die Nukleosomen und die DNA-Protein-Komplexe sind in den Chromatinfasern der Chromosomen in komplexer Weise aufgefaltet, wodurch Bereiche, die in der DNA-Sequenz weit voneinander entfernt sind, nebeneinander liegen und miteinander interagieren können. Auch diese Effekte können epigenetisch weitervererbt werden. Bei den als Zentromere bezeichneten spezialisierten Regionen der DNA, an denen die Spindelfasern für die Zellteilung ansetzen, hat sich herausgestellt, dass ihre Position durch epigenetische Mechanismen und nicht durch die Basensequenz gesteuert wird. Als Ansatzpunkt für die Spindelfasern dient eine Variante eines Histonproteins, das CenH3, das nur in den Nukleosomen der Zentromere vorkommt. Bei einer Überproduktion an CenH3 kommt es zu Missbildungen des Spindelapparates und fehlerhaften Zellteilungen. Sie führen zu schweren Entwicklungsstörungen und sind oft auch für Krebszellen charakteristisch.

Umwelteinflüsse und ihre Vererbung

Lokalisation des Histons CenH3 (rot) in den Centromeren der Chromosomen (blau) © S. Ehrhardt, Universität Heidelberg

Dass auf dem Weg über die Epigenetik Prägungen durch die Umwelt auf die Nachkommen weitergegeben werden können, wird heute kaum mehr bestritten, auch wenn für den Menschen, anders als im Tierversuch, hieb-und stichfeste Beweise kaum erbracht werden können. Überzeugende indirekte Hinweise gibt es aber in Fülle. Schwere Hungersnöte, denen schwangere Frauen ausgesetzt waren, beeinträchtigen nicht nur die Gesundheit des eigenen Kindes, sondern auch die der Enkel, wie Langzeitbeobachtungen gezeigt haben. Eine ähnliche Weitergabe von Erfahrungen wurde auch vom Vater auf Söhne und Enkel nachgewiesen.

Die epigenetische Programmierung des Organismus setzt bereits in der frühen Embryonalentwicklung ein. Für Mäuse konnte auch gezeigt werden, dass der Embryo im Mutterleib besonders sensibel auf Umweltreize reagiert. Das gilt sicher auch beim Menschen. Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft massive häusliche Gewalt erfahren haben, zeigen häufig epigenetische Veränderungen im Gen für den Glukokortikoidrezeptor, der den Signalweg des Stresshormons Cortisol reguliert. Eine wichtige Rolle in der Verkettung von Umweltfaktoren und Epigenom könnte auch das Hitzeschockprotein Hsp90 spielen, das für den Funktionserhalt von Signalproteinen, die zwischen den Zellen die Kommunikation gewährleisten, wichtig ist. Hsp90 ist ein sogenanntes Chaperon, das dazu beiträgt, dass Proteine ihre korrekte räumliche Faltung einnehmen und bewahren; es kommt in praktisch allen Organismen vor und wird in den Zellen besonders bei Stress (wie zum Beispiel erhöhter Temperatur) vermehrt gebildet. Weitere ebenfalls intensiv erforschte Kandidaten für die epigenetische Regulation sind die bei der Genregulation und besonders beim Stummschalten von Genen maßgeblich beteiligten microRNAs. So hat man in Krebszellen regulatorisch inaktive, methylierte microRNAs gefunden.

Welcher Mechanismus der Vererbung über die Meiose hinweg an die Nachkommen zugrunde liegt, ist nicht bekannt. Offenbar bleibt die entsprechende Information zumindest teilweise über die Befruchtung der Eizelle durch die Spermazelle erhalten. Nach mehreren Befruchtungsvorgängen und Reifeteilungen scheint diese Information sukzessive verloren zu gehen. Doch man kennt Beispiele aus dem Tier- und besonders dem Pflanzenreich, dass epigenetische Einflüsse – ausgelöst durch Chemikalien, Nahrung, Bakterieninfektionen, hohe Temperaturen, Strahlung und andere Umweltreizen – sogar über viele Generationen vererbt werden.

Forschungsschwerpunkt Epigenetik

Die Bedeutung der Epigenetik im heutigen Weltbild der Lebenswissenschaften spiegelt sich in einer großen Zahl universitärer, nationaler und internationaler Forschungsprogramme wider. Kaum ein auf diesem Gebiet tätiger Forscher, der nicht an mindestens einem solchen Programm beteiligt ist. An erster Stelle sei das dem Humangenomprojekt nachempfundene, geleitete Human-Epigenomprojekt genannt, das vom International Human Epigenome Consortium (IHEC) geleitet wird. Seine deutschen Beiträge sind im Deutschen Epigenom Programm (DEEP) zusammengefasst, an dem sich unter anderem das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg und das Freiburger Max-Planck-Institut für Immunologie und Epigenetik (MPI) beteiligen. Prof. Dr. Thomas Jenuwein, der am MPI den – seit fünf Jahren auch im Namen hervorgehobenen – Schwerpunkt Epigenetik etablierte, hatte auch das Europäische Epigenom-Exzellenznetzwerk geleitet. In seiner Nachfolge steht im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU das Exzellenznetzwerk „EpiGeneSys“ mit dem Fokus auf der Verbindung von Epigenetik und Systembiologie. Zwischen dem MPI, der Universität und dem Universitätsklinikum Freiburg ist ein Sonderforschungsbereich Medizinische Epigenetik mit Projekten von der Grundlagenforschung bis hin zu klinischen Anwendungen eingerichtet worden. Mit der Erforschung epigenetischer Modifikationen bei Krebs ist das vom BMBF geförderte Konsortium CancerEpiSys befasst, an dem unter anderem Forscher aus Heidelberg und Ulm beteiligt sind. Die molekularen Analysen von Tumoren umfassen am DKFZ nicht nur die komplette Genomsequenz, sondern zunehmend auch das Epigenom.

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