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biosyn Arzneimittel GmbH

Medizin aus dem blauen Blut von Meeresschnecken

Auf dem Meeresgrund vor den Küsten Südkaliforniens bis nach Mexiko kriecht eine lebende Apotheke: Aus der Hämolymphe, einer Art Blutersatz bei wirbellosen Tieren, der Schlüssellochschnecke Megathura crenulata gewinnt das Fellbacher Pharmaunternehmen biosyn Arzneimittel GmbH ein Medikament gegen Harnblasenkrebs. Auch als Trägermolekül für verschiedene Antigene von therapeutischen Impfstoffen wird der blaue Blutfarbstoff der Meeresschnecke derzeit getestet.

Porträtfoto Sebastian Riedmayr
Dr. Sebastian Riedmayr verantwortet seit 2018 das operative Geschäft bei der biosyn Arzneimittel GmbH. © privat

Die blaue Farbe stammt von Kupferatomen des Blutfarbstoffes Hämocyanin, die in der handtellergroßen Meeresschnecke für den Sauerstofftransport im Gewebe zuständig sind. „Ursprünglich haben Wissenschaftler nach Proteinen gesucht, mit denen der Immunstatus von Patienten bestimmt werden kann“, erzählt Sebastian Riedmayr, COO (Chief Operation Officer) der biosyn Arzneimittel GmbH.

Das Hämocyanin der kalifornischen Meeresschnecke schien dafür besonders geeignet. Weil die Spezies für den Menschen ungenießbar ist und das Protein dem Immunsystem somit unbekannt, kann es eine starke Immunantwort hervorrufen. Außerdem ist der Blutfarbstoff der „Blaublüter“ nicht wie bei Säugetieren an Blutzellen gebunden, sondern bewegt sich frei in der Hämolymphe, wo er leicht angezapft werden kann.

Auch der US-amerikanische Urologe Carl A. Olsson wollte Anfang der 1970er Jahre mit dem Hämocyanin eigentlich die Immunreaktion von Menschen testen, die an oberflächlichem Harnblasenkrebs erkrankt waren. Zufällig bemerkte er jedoch, dass sich in der Gruppe der so Getesteten nach der operativen Entfernung des Tumors seltener wieder ein neuer Harnblasentumor bildete als in einer Vergleichsgruppe, die nicht mit der Substanz behandelt worden war.

Immuntherapie gegen Krebs

Offenbar stimulierte der Stoff aus der Schnecke nicht nur die körperliche Abwehr, sondern wappnete sie auch gegen wuchernde Tumorzellen. „Spezifische Antikörper gegen das Hämocyanin kreuzreagieren auch mit Oberflächenmolekülen auf Blasenkrebszellen“, erklärt Riedmayr. Diese Nachricht kam auch den drei Gründern von biosyn in Deutschland zu Ohren.

Das Foto zeigt die handtellergroße Schnecke auf einer ausgestreckten Hand mit typischer Atemöffnung im Zentrum der Rückenschale.
Große Kalifornische Schlüssellochschnecke (lat. Megathura crenulata, engl. Giant Keyhole Limpet). © biosyn

1997 erreichte das Unternehmen für den Blutfarbstoff aus der Schnecke erstmals eine Zulassung zur Rückfallprophylaxe beim oberflächlichen Harnblasenkarzinom in den Niederlanden. Auch in Österreich, Argentinien und Südkorea ist das in seine Untereinheiten aufgespaltene Hämocyanin unter dem Markennamen IMMUCOTHEL® mittlerweile zugelassen. Einzelne Berichte, wonach auch Patienten mit anderen Krebserkrankungen von dem Arzneimittel profitieren, seien noch nicht näher untersucht, so Riedmayr.

Daneben wird die Substanz der Meeresschnecke als Trägermolekül für Antigene in Impfungen getestet, unter anderem für Tumorantigene in der Krebstherapie. Viele Antigene sind zu klein, um vom Immunsystem erkannt zu werden. Aber in hoher Anzahl, gebunden auf der Oberfläche des Hämocyanins, das zu den größten Proteinen überhaupt gehört, können auch niedermolekulare Antigene eine ausgeprägte, gegen das Antigen gerichtete Antwort hervorrufen. Aktuell liefert das Fellbacher Pharma-Unternehmen das Protein der Meeresschnecke als Trägerprotein für die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Alzheimer.

Blutspende rettet Leben

Das Foto zeigt die bläuliche Hämolymphe in einem hängenden Plastikbeutel. Von einer Mitarbeiterin wird die Hämolymphe steril abgelassen.
Die Hämolymphe der Schnecke wird in Fellbach nach den Standards guter Herstellungspraxis aufbereitet (engl. Good Manufacturing Practice, GMP). © biosyn

„Früher hat man die Schnecken aufgeschnitten, um das Hämocyanin der Meeresschnecke zu isolieren“, berichtet Riedmayr. So auch der Lieferant, von dem biosyn anfangs den Hämocyanin-Rohstoff für seine Zulassungsstudien bezog. Doch es stellte sich bald heraus, dass dieser nicht die für den klinischen Einsatz erforderliche Qualität aufwies. Stattdessen entwickelten und patentierten die Fellbacher ein Verfahren, das es ermöglicht, den Schnecken steril einen Teil der Hämolymphe aus dem betäubten Fuß zu entnehmen und die fehlende Flüssigkeit zu ersetzen. Die Tiere werden anschließend wieder lebend im Pazifik ausgesetzt.

Dafür wurde ein Tochterunternehmen im kalifornischen Carlsbad gegründet. Denn die Schnecke Megathura crenulata ist nur an den Küsten Südkaliforniens und der Halbinsel Baja California in Mexiko heimisch. Die Schnecken sind bis zu 15 Jahre alt, wenn geschulte Taucher sie in 40 Metern Tiefe von den Steinen lösen. Anschließend leben die 500 bis 700 Gramm schweren Tiere zwei Tage in Quarantäne in den eigens entworfenen Meerwasseraquarien, bevor sie rund 100 Milliliter ihres kostbaren Blutes spenden.

Von der gespendeten Hämolymphe wird der zelluläre Bestandteil abgetrennt und die bläuliche Proteinmischung gekühlt in die Zentrale nach Fellbach geflogen. Dort erfolgt die Aufreinigung des Hämocyanins. Damit es als Arzneimittel auch noch über Jahre bei Raumtemperatur stabil bleibt, spalten die Fellbacher das Protein in seine Untereinheiten und gefriertrocknen diese in einer Zuckerlösung zu einem weißen Pulver. Parallel dazu vertreibt das Unternehmen das Hämocyanin auch in einer wässrigen Lösung für die Impfstoffentwicklung und zu Forschungszwecken.

„Die Herausforderung war, ein Verfahren zu finden, um einerseits einen hochreinen Naturstoff zu gewinnen, sodass es bei der späteren Immunisierung nicht zu unerwünschten Kreuzreaktionen mit Verunreinigungen kommt. Auf der anderen Seite sollte während des Prozesses das Protein nicht zerstört werden, sodass die Ausbeute möglichst hoch und die Anzahl der benötigten Tiere gering gehalten wird“, sagt Riedmayr.

Weltmarktführer für Hämocyanin

Insgesamt deckt das Unternehmen nach eigenen Angaben 90 Prozent des weltweiten Hämocyanin-Marktes ab. „Im Jahr 2019 hatten wir besonders in Südkorea eine unerwartet hohe Nachfrage nach Hämocyanin“, berichtet Riedmayr. Wäre es da nicht einfacher, das Protein gentechnisch herzustellen, anstatt es aus der Meeresschnecke zu gewinnen?

Bereits 1999 hat biosyn zwar zusammen mit einer Arbeitsgruppe der Uni Mainz die Gensequenz des Meeresschnecken-Hämocyanins entschlüsselt und patentiert, doch gelte die gentechnische Herstellung wegen der Größe des Proteins als zu kompliziert, so Riedmayr. Außerdem liefere der Pazifik vor der Baja California Millionen von Serum-Spendern.

„Wir würden gerne den Kreis der Länder erweitern, in denen das Medikament zugelassen ist, und es für die Therapie weiterer Krebserkrankungen zugänglich machen“, sagt Riedmayr. „Große Zulassungsstudien zu finanzieren, ist jedoch gerade für mittelständische Unternehmen eine große Herausforderung“, so Riedmayr weiter.

Er verweist darauf, dass das 75-köpfige Unternehmen im Laufe der Jahre bereits enorme Mittel in die Entwicklung seiner Hämocyanin-Produkte investiert habe. Finanziert wird die Forschung des Unternehmens durch Einnahmen aus der Vermarktung von Nahrungsergänzungsmitteln und patentfreien Medikamenten, vor allem für die Krebs- und Intensivmedizin sowie für Schilddrüsen-Erkrankungen. Der Naturstoff aus dem Meer zählt neben dem Spurenelement Selen zu den beiden wichtigsten Produkt-Säulen des 1984 gegründeten Unternehmens.

Literatur:

Olsson CA et al. (1974). Immunologic reduction of bladder cancer recurrence rate. J Urol 111(2): 173-176

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/medizin-aus-dem-blauen-blut-von-meeresschnecken