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Automatisierte Schmerzerkennung

Mit Künstlicher Intelligenz Schmerzen besser erfassen

Um Schmerzmittel genauer dosieren zu können, haben Ulmer Psychologen mit Kooperationspartnern Algorithmen zur automatisierten Schmerzerkennung entwickelt. Die Forschenden suchen nun Partner aus der Industrie, um ihr Projekt in die Anwendung zu bringen.

Wenn ein Mensch mit schmerzverzerrtem Gesicht vor uns steht, ist sofort klar, der Person geht es nicht gut, sie leidet. Doch die Stärke des Schmerzes zu erkennen, ist deutlich schwieriger, denn jeder Mensch empfindet Schmerz anders. Bei Patientinnen und Patienten, die sich nicht oder schlecht äußern können, wie zum Beispiel Kinder, an Demenz erkrankte Personen oder Bewusstlose auf der Intensivstation, ist es auch für Fachpersonal problematisch, den Grad des Schmerzes festzustellen.

Emotionen deuten

Zwei Männer stehen vor einer hellen Wand.
Schmerzforscher Dr. Sascha Gruss (links) und Prof. Dr.
Steffen Walter (rechts) suchen Industriepartner für die automatisierte Schmerzerkennung.
© Universität Ulm

Zur Erfassung von Schmerz wird unter anderem mit der numerischen Ratingskala (NRS) von 0 bis 10 gearbeitet, bei der Patientinnen und Patienten den Schmerz innerhalb dieser Skala einordnen können. Eine weitere Methode der Schmerzerfassung erfolgt über Fragebögen oder auch Schmerz-Tagebücher. Prof. Dr. Steffen Walter, Leiter der Sektion Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Ulm, erklärt das daraus resultierende Problem: „Die Problematik, die sich anschließt ist, dass man auf Basis dieser ungenauen Informationen nur schwer Analgetika, also schmerzstillende Arzneimittel, dosieren kann. Denn bei einer Unterversorgung haben die Menschen zu viel Schmerz, sie leiden. Das kann zu kardiovaskulären Problemen, beziehungsweise sich chronifizierenden Schmerzen, führen. Oder die Patienten erhalten viel zu viel schmerzstillende Mittel, sodass eine Abhängigkeit, beziehungsweise Atemdepression, Schwindel oder schwere Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstörungen entstehen.“ Die multimodale automatisierte Schmerzerkennung kann für dieses Problem die Lösung sein, daher wandte sich der Schmerzforscher bereits vor 14 Jahren dem Thema Affective computing zu: Die Erkennung von Emotionen mittels Künstlicher Intelligenz (KI) ist in vielfältigen Bereichen und Situationen möglich. So können Basisemotionen wie Angst und Freude, aber auch komplexe Zustände wie Stress erkannt werden. Anwendungsbereiche können in der Robotik, Telemedizin, Psychotherapie oder eben der Schmerzerkennung sein.

Physiologische Parameter im Fokus

Ein Mann liegt mit schmerzverzerrten Gesicht auf einer Liege. Er ist an eine Computersystem über Elektroden angeschlossen.
Unter kontrollierten Bedingungen erfassen die Forschenden den Schmerz eines Probanden. © Universität Ulm

Bereits 2012 startete Walter das Projekt „Multimodale automatisierte Schmerzerkennung“ mit zahlreichen Kooperationspartnern (siehe Infokasten unten), das sich mit der klinischen Schmerzmessung befasst, für welche mimische und psychobiologische Parameter aufgenommen werden. Im Rahmen des Projekts wurden die Probandinnen und Probanden gezielt schmerzhaften Reizen ausgesetzt und dabei die verschiedensten Parameter aufgenommen. „Grundsätzlich sind alle Parameter bei diesen Beobachtungsskalen interessant. Wir erfassen zum Beispiel die Mimik, also die Muskulatur des Gesichts, die Gestik und besonders die physiologischen Parameter, wie z. B. der Hautleitwert“, so Walter. Der Hautleitwert, der der elektrischen Leitfähigkeit der Haut entspricht, wird durch die Schweißabsonderung beeinflusst und am Finger gemessen. Bei einer Erregung, die zum Beispiel durch Schmerz entsteht, erhöht sich die Hautleitfähigkeit. Weitere Parameter sind die Elektromyografie und kardiovaskuläre Parameter, wie das EKG und der Blutvolumenpuls. „Alle diese genannten Parameter sind bei Biofeedback-Messungen von Relevanz“, so der Schmerzforscher. „Wir erfassen ebenfalls die Hauttemperatur und die Atmung und als eine weitere Modalität die Paralinguistik, welche sich in Form von Ächzen und Stöhnen, beziehungsweise festem Aus- und Einatmen, äußert“, ergänzt Dr. Sascha Gruss, der sich als studierter Wirtschaftswissenschaftler vor 13 Jahren der Humanbiologie zuwandte und in diesem Fachbereich promovierte.

Die KI wird trainiert

Für die automatisierte Schmerzerkennung wird nun eine KI mit den gemessenen Parametern trainiert. „KIs sind mathematische Algorithmen, die auf einen bestehenden Datensatz trainiert werden können. Die eben genannten Parameter sind in dem Datensatz enthalten, sodass klar ist, welches Muster in den Biosignalen enthalten sein muss, wenn Schmerz auftritt, wie etwa ein hoher Hautleitwert oder Muskelanspannung. Wenn die KI die neuen Algorithmen erlernt hat, dann ist sie in der Lage, diese auf ein unbekanntes Biosignal anzuwenden. Die KI kann dann mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Patient in diesem Moment Schmerz empfindet“, berichtet Gruss.

Bisher wird in der automatisierten Schmerzerkennung hauptsächlich mit einzelnen Parametern wie dem Hautleitwert gearbeitet. Die Ulmer Forschenden haben gezielt den Ansatz mit mehreren Modalitäten gewählt, da es bei nur einem Parameter häufig zu Fehlmeldungen kommt. „Bei uns spielt die Informationsfusion eine große Rolle. Die zahlreichen gemessenen Signale fließen in einen Algorithmus mit dem Ziel, auf einem Monitor eine Kurve zu erhalten, die darstellt, wie stark der Schmerz ausgeprägt ist“, verdeutlicht der Psychologieprofessor. Durch Kombination der Parameter könnten Fehlmeldungen eliminiert werden. Für eine flexible und schnelle praktische Anwendung dürften es aber nicht zu viele Parameter sein.

Industriepartner gesucht

Genau für diese Anwendung suchen die Ulmer Forscher nun Industriepartner. Die KI kann mittlerweile die Schwelle zur Schmerztoleranz mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent erkennen. Bei der Schmerzschwelle ist eine Erkennungsrate von etwa 70 Prozent möglich. Nach erfolgreichen Klinischen Studien im Intensivbereich wollen die Forschenden den Prototypen eines Patientenmonitors entwickeln lassen, der eine Schmerzintensitätskurve anzeigen kann. Da die Algorithmen den Schmerz in Echtzeit erkennen müssten, sei eine große Programmierlast notwendig. „Wir können uns vorstellen, dass unser Schmerzmodul in ein bestehendes System integriert wird, um den Arzt mit dieser Information auch zu unterstützen“, sagt der Humanbiologe. Wichtig seien bei dieser Integration die Schnittstellen, die auch im Rahmen von Datenschutzanforderungen geklärt werden müssen.

Und natürlich ist die Entwicklung der KI noch nicht beendet. In einem späteren klinischen Einsatz sollen die Daten weiter in den Algorithmus einfließen, sodass sich dieser ständig verbessert. Denn, so Gruss: „Es gibt kein Schema F für Schmerz, das man über einen Patienten legen kann. Wir wollen eine KI, die in der Lage ist, auch die Randgebiete mit abzudecken.“

Infokasten: Projekt „Multimodale automatisierte Schmerzerkennung“

  • Laufzeit: 2012 bis 2020
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
  • Kooperationspartner:
    • Prof. Dr. Eberhard Barth, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Uniklinikum Ulm
    • Prof. Dr. Ayoub Al-​Hamadi und Philipp Werner, Institut für Informations- und Kommunikationstechnik IIKT, Universität Magdeburg
    • Prof. Dr. Oliver Wilhelm und Mattis Geiger, Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik, Universität Ulm
    • Dr. Adriano Andrade, Biomedical Engineering Laboratory BioLab, Universiät Uberlandia, Brasilien
    • PD Dr. Friedhelm Schwenker, Institut für Neuroinformatik, Universität Ulm
    • Prof. Dr. Magrit-​Ann Geibel, Mund-, Klinik für Kiefer-​ und Gesichtschirurgie, Uniklinikum Ulm
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