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Künstliche Intelligenz in der Medizin: Assistenz für die menschlichen Sinne

Keiner kann mehr ohne sie: Ob wir wollen oder nicht, Künstliche Intelligenz berührt längst jeden einzelnen von uns. Ob im Verkehr, bei Marketingkampagnen oder in Medizin und Life Sciences – KI steckt hinter vielen Dingen – auch oft, ohne dass uns dies so richtig bewusst wird. Dabei gehört Baden-Württemberg mit einer der größten Forschungskooperationen Europas seit kurzem zu den Hotspots für diese Schlüsseltechnologie.

Die Idee, dass Computer auf kognitiver Ebene menschenähnliche Fähigkeiten entwickeln könnten, gibt es schon lange: Beispielsweise erfand der Mathematiker Alan Turing bereits 1950 einen Test, mit dem geprüft werden kann, ob Computer ein dem Menschen gleichwertiges Denkvermögen haben: Mit dem sogenannten Turing-Test kann untersucht werden, ob es einer Testperson gelingt, Mensch und Maschine voneinander zu unterscheiden1.

Dabei war der Computer jahrzehntelang chancenlos. Bis vor kurzem: Seit spätestens 2017 gilt der Test als bestanden. Beispielsweise können seither überzeugende Telefonanrufe getätigt oder Rezensionen verfasst werden, die nicht mehr als maschinell erstellt erkennbar sind. Und auch in der Medizin können mit Computerhilfe heute schon Bilddaten automatisch analysiert, Kandidaten für Medikamente identifiziert oder personalisierte Behandlungen geplant werden.

Künstliche Intelligenz boomt – auch in den Life Sciences

Nahaufnahme eines Roboters mit menschlich aussehendem Kopf, der eine Hand mit Finger hebt
Roboter sind die Stars des KI-Booms: Denn sie erinnern an menschliche Fähigkeiten und könnten uns in der Zukunft als Pflegeroboter oder Haushaltshilfen unterstützen, oder als winzige Assistenten im Körper medizinische Aufgaben erledigen. © Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, W. Scheible

Hinter all diesen Fähigkeiten stecken Künstliche Intelligenzen (KI), die durch die Entwicklung leistungsfähiger Computer und künstlicher neuronaler Netze sowie durch große Datenmengen, die aus dem Internet oder den sozialen Medien erhoben werden, unser Leben teilweise jetzt schon und nach Ansicht von Experten noch in zunehmendem Maße in vielen Bereichen bestimmen werden – auch in den Lebenswissenschaften. KI gilt als Schlüsseltechnologie unserer Zeit, und ihre Chancen und auch Risiken werden deshalb derzeit sehr kontrovers diskutiert: Beispielsweise in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Potenziale“ oder als Thema des Wissenschaftsjahres 20192.

© BMBF/Wissenschaftsjahr 2019

Und auch Medizin und Biowissenschaften erleben derzeit einen wahren KI-Boom. Grund dafür ist, dass man hier mittlerweile an einem Punkt angekommen ist, an dem die Fähigkeiten des Menschen alleine die Potenziale nicht mehr ausreichend nutzen können: Modernste technische Möglichkeiten in Kombination mit zunehmender Automatisierung in Labor und Klinik sowie die Entwicklung von Hochdurchsatztechniken haben in den letzten Jahren zu einer riesigen Datenflut geführt. Deren vollständige Auswertung stellt eine praktisch menschenunmögliche Herausforderung dar, sodass ein großer Teil der eigentlich verfügbaren Informationen bislang ungenutzt bleibt.

Eine MRT-Aufnahme beispielsweise, wie sie tagtäglich routinemäßig in vielen Arztpraxen und Kliniken gemacht wird, hat mehrere tausend Graustufen, die aber bisher auf unter hundert reduziert werden müssen, um vom behandelnden Arzt erfasst werden zu können. Ein Algorithmus aber, der alle Daten miteinbeziehen könnte, würde vielleicht zu ganz anderen Ergebnissen kommen als der Mensch. Dies gilt auch für viele andere Bilddaten, wie sie täglich in medizinischen Einrichtungen entstehen und deren Informationsgehalt meist nicht annähernd optimal genutzt wird; zum Beispiel von Röntgen- und Ultraschallaufnahmen oder mikroskopischen Bildern. Dies soll sich künftig ändern. Durch Einsatz von KI sollen innovative technische Entwicklungen und die produzierten Daten wesentlich effizienter genutzt werden können.

Maschinelles Lernen spielt tragende Rolle

Unter dem Begriff KI – auch oft AI (Artifizielle Intelligenz) genannt – werden allgemein Algorithmen mit menschenähnlichen Entscheidungsstrukturen zusammengefasst. Eine einzige und präzise, allgemeingültige Definition gibt es bislang noch nicht. Generell unterscheidet man aber zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ KI: Die „starke“ KI geht davon aus, dass Algorithmen die gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie der Mensch haben oder ihn sogar übertreffen. Die „schwache“ Variante konzentriert sich auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme, wobei die entwickelten Systeme zwar zur Selbstoptimierung fähig sind und auch zur Simulation menschlichen Denkens konstruiert werden, aber nur sehr begrenzte Aufgaben bearbeiten können. Da man nach heutigem Stand noch nicht so weit ist, eine „starke“ KI zu entwickeln, konzentriert man sich derzeit auf die Erforschung und Umsetzung der „schwachen“ Variante. So auch die Bundesregierung, die sich mit ihrer nationalen Strategie für Künstliche Intelligenz „AI made in Germany“3 seit Ende 2018 auf zwölf Handlungsfelder konzentriert, um Deutschland und Europa zu einem führenden Standort für KI zu machen.

© Eberhard Karls Universität Tübingen

In den Life Sciences spielt momentan vor allem ein Teilgebiet der KI eine tragende Rolle: das maschinelle Lernen, das heißt, die künstliche und eigenständige Lösung von Problemen durch Lernen aus Beispielen – nicht durch Programmierung. Von den vielen Ansätzen, die Experten auf diesem Gebiet aktuell schon zur Hand haben, ist das sogenannte Deep Learning besonders populär, um Muster und Modelle abzuleiten. Es nutzt – inspiriert vom Lernen im menschlichen Gehirn – künstliche neuronale Netze, die auf Basis großer Datenmengen das Erlernte immer wieder mit neuen Inhalten verknüpfen und dadurch erneut lernen.

KI in Deutschland hat mehrere Zentren

Roboter Apollo im Labor: Er hält einen blauen Becher und bekommt von einer menschlichen Hand einen roten Becher angeboten.
Der Roboter Apollo wurde vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen entwickelt und ist darauf spezialisiert, unterschiedliche Objekte wahrzunehmen und zu manipulieren. Er soll zum Beispiel lernen, Gegenstände richtig zu greifen. © Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, K. Yamada

Generell ist nach Ansicht von Experten Deutschland im weltweiten Vergleich in der Forschung und Entwicklung von KI derzeit gut aufgestellt. Allerdings läuft sowohl die deutsche als auch die europäische Forschungs- und Entwicklungslandschaft Gefahr, durch massive Abwerbungen aus dem Ausland und der Industrie zukünftig zurückzufallen.

Bei der wirtschaftlichen Vermarktung stellt sich die Lage etwas anders dar: Nach einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger aus dem Jahr 2018 hat die USA inzwischen schon die Führungsrolle bei der Gründung von KI-Start-ups übernommen, die als Innovationstreiber für diese Technologie gelten. Demnach sind aktuell schon fast 40 Prozent aller dieser jungen Unternehmen in den USA ansässig; Europa liegt mit 22 Prozent aber immerhin an zweiter Stelle vor China und Israel4. Deutschland alleine nimmt mit knapp über hundert Start-ups den achten Platz weltweit ein. Hier soll die „Strategie Künstliche Intelligenz“3 der Bundesregierung ansetzen. Geplant war es dafür ursprünglich, in den nächsten fünf Jahren drei Milliarden Euro in die Technologie zu investieren. Derzeit sollen aber zunächst nur 500 Mio. Euro ausgegeben werden dürfen.

Aktuell sind in Deutschland sowohl KI-Start-ups als auch Forschungseinrichtungen nicht primär an einem Ort konzentriert, sondern teilen sich in mehrere Zentren auf5, darunter beispielsweise das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz mit mehreren Standorten, rund 25 Hochschulen sowie Einrichtungen der Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft.

Baden-Württemberg will Spitzenplatz ausbauen

In Baden-Württemberg ist die Zahl der Zentren im deutschlandweiten Vergleich besonders hoch: In der akademischen Forschung sind auf diesem Gebiet fast alle Hochschulen engagiert. Aber auch an anderen Standorten wird mit Hochdruck an der Entwicklung und Anwendung von KI gearbeitet, beispielsweise im Hub Artificial Intelligence Karlsruhe, am KIT, dem Karlsruher Forschungszentrum für Technologie, in den Exzellenzclustern „BrainLinks-BrainTools“ Freiburg oder „Maschinelles Lernen“ Tübingen oder dem Cyber Valley der Region Stuttgart-Tübingen. In einem Strategiepapier hat sich die Landesregierung parallel zum entsprechenden Dokument der Bundesregierung als zukünftige „weltweite Leitregion des digitalen Wandels“ und „Vorreiter für Künstliche Intelligenz“ positioniert6 und einen zweistelligen Millionenbetrag bereitgestellt, um „ein einzigartiges Ökosystem für KI zu schaffen“, das aber gleichzeitig „Standards setzt in Cybersicherheit, Datenschutz und Ethik“. Schon jetzt nimmt Baden-Württemberg mit knapp über 80 KI-Innovationen einen der Spitzenplätze Deutschlands ein7.

Mit dem bereits 2016 gegründeten Cyber-Valley8 – einer der europaweit größten Forschungskooperationen in der KI – ist Baden-Württemberg mittlerweile sogar zu einem europäischen Hotspot geworden. Beteiligt sind die Max-Planck-Gesellschaft, die Universitäten Tübingen und Stuttgart sowie die Unternehmen Amazon, BMW, Bosch, Daimler, IAV, Porsche und ZF Friedrichshafen und mehrere Stiftungen. Weitere Partner sollen in den kommenden Jahren dazustoßen. Die bearbeiteten Themen sind sehr breit gefasst und reichen von neuartigen numerischen Algorithmen, die lernende Maschinen schneller und zuverlässiger machen sollen, über intelligente Systeme für selbstfahrende Autos bis hin zu medizinischen Analyseverfahren.

Europäischer Hotspot für KI: Das Cyber Valley Stuttgart-Tübingen

Am Tübinger MPI für Intelligente Systeme steht ein weltweit einzigartiger 4D-Ganzkörperscanner, der den Körper und seine Bewegungen in Raum und Zeit hochauflösend aufnehmen kann. Hieraus erzeugen Forscher einen detailgetreuen virtuellen Stellvertreter eines Menschen. © Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, W. Scheible

„Die Idee für das Cyber Valley verdanken wir der Voraussicht von Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, und Ministerpräsident Winfried Kretschmann: Sie erkannten schon früh, dass KI und Robotik Zukunftstechnologien sind und dass nur eine räumliche Verdichtung zwischen Forschung und Unternehmen Deutschland insgesamt als Standort zukunftsfähig machen wird“, so Linda Behringer, Pressesprecherin des Cyber Valley und des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Stuttgart. „Und genau das bietet das Neckartal: Exzellente Universitäten, führende Hightech-Unternehmen in der nächsten Umgebung sowie einen breit aufgestellten Mittelstand. Unsere Forscher aus Stuttgart und Tübingen nehmen bei wissenschaftlichen Publikationen im Bereich KI den Spitzenplatz in Deutschland ein; beim Thema Maschinelles Lernen findet sich Tübingen unter den Top 10 Standorten weltweit.“

In diesem Rahmen treibt das Cyber Valley die Grundlagenforschung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses voran: Dazu wurden kürzlich zehn neue Forschungsgruppen aufgebaut; weitere sollen in den kommenden Jahren folgen. An beiden Universitäten werden derzeit insgesamt zehn neue Lehrstühle für KI eingerichtet. Eine neue Graduiertenschule, die International Max Planck Research School for Intelligent Systems, kümmert sich um die Ausbildung und Betreuung von über 100 Doktoranden. Damit reagiert man auch auf den Mangel an Experten auf dem Gebiet.

„Außerdem fördert das Cyber Valley die Gründungskultur in der Wissenschaft; hier entsteht ein ideales Umfeld für Start-ups“, erklärt Behringer. „Geplant sind darüber hinaus gemeinsame Forschungsprojekte zur Stärkung des Technologietransfers zwischen den Partnern. Der rege Austausch zwischen anwendungsbezogener Industrieforschung und neugiergetriebener Grundlagenforschung soll neue Impulse für beide Seiten setzen und den idealen Nährboden für Ausgründungen schaffen.“

KI soll nicht den Menschen ersetzen

Wie bei allen innovativen, neuen Technologien gibt es jedoch auch zum Thema KI sehr kontroverse Ansichten, die von „schlimmer als die Atombombe“9 oder „Robokalypse“10 bis hin zum „Zukunftsmarkt“11 oder „goldenem digitalen Zeitalter“10 reichen. Dabei sollten die verschiedenen Anwendungsgebiete jedoch getrennt voneinander bewertet und betrachtet werden: Während autonome Waffensysteme oder die verbraucherorientierte KI von Konzernen wie Google oder Amazon von vielen Menschen kritisch gesehen werden, ist die Akzeptanz in medizinischen Anwendungen um ein Vielfaches größer. Hier stimmen wohl die meisten überein, dass es grundsätzlich wünschenswert ist, KI auf möglichst breiter Basis und zum Wohl des Menschen zu nutzen.

KI erspart dem Arzt viel Zeit und erschließt den Patienten hoffnungsvolle neue Wege. Dabei geht es nicht darum, Menschen zu ersetzen, sondern die Möglichkeiten von Forschern und Therapeuten zu erweitern – die Maschine als Assistent für die menschlichen Sinne einzusetzen. Denn in vielen Disziplinen, etwa bei der Suche nach neuen Wirkstoffen für Medikamente oder als Roboter für präzise Operationen, sind Computer dem Menschen schon heute weit überlegen.

Dennoch sind sich Ethiker einig, dass es auch für solche Anwendungen Grenzen geben müsse und man die Systeme nur dann einsetzen sollte, wenn man sie auch versteht, bzw. die Maschinen zwar empfehlen zu lassen, die letzte Entscheidung aber beim Menschen zu belassen. Überhaupt sollten die Risiken der KI vor der entsprechenden Anwendung sehr genau untersucht und abgewogen werden. Dabei müsse eine ethische KI mit der Bevölkerung erarbeitet und ein Problembewusstsein geschaffen werden, bei dem es beispielsweise auch um den Umgang mit den eigenen Daten gehe.

Literatur:

1 Alan M. Turing: “Computing Machinery and Intelligence”. In: Mind, Band LIX Nr. 236, 1950, ISSN 0026-4423, pp 433 -460.

2 Wissenschaftsjahr 2019: Künstliche Intelligenz, Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF & Wissenschaft im Dialog.

3 Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, Stand: November 2018.

4 „AI startups as innovation drivers“, Studie Roland Berger, Mai 2018.

5 H. Goecke, C. Thiele: „KI-Forschung und Start-ups in Deutschland: Zahlreiche Zentren“. IW-Kurzbericht 75/2018, Institut der Deutschen Wirtschaft.

6 Strategiepapier Künstliche Intelligenz Baden-Württemberg der Landesregierung

7 KI-Landkarte. Plattform Lernende Systeme.

8 Cyber Valley Stuttgart -Tübingen

9 Elon Musk, Digitalkonferenz SXSW Austin März 2018

10 „Künstliche Intelligenz: Goldene Zeiten oder Robokalypse“, Reportage ARD 2019

11 „Zukunftsmarkt Künstliche Intelligenz: Potenziale und Anwendungen“ Fraunhofer-Allianz Big Data 2017

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/dossier/kuenstliche-intelligenz-der-medizin-assistenz-fuer-die-menschlichen-sinne