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Schnelle Diagnose bei Blutvergiftung

Vollblutmodell ermöglicht Entwicklung eines Frühwarnsystems bei Sepsis

Sepsis ist eine lebensbedrohende Erkrankung, die umso erfolgreicher behandelt werden kann, je rascher die Therapie eingeleitet wird. Dabei ist nicht nur die Infektion an sich so gefährlich, sondern eine fehlregulierte Reaktion des Immunsystems. Mediziner des Universitätsklinikums Ulm haben nun ein tierversuchsfreies Testsystem entwickelt, mit dem die Erkrankung beforscht und innovative Diagnostikwerkzeuge entwickelt werden können, um das Risiko eines Patienten schnell zu erfassen und dessen Behandlung zu optimieren.

Die Sepsis – umgangssprachlich auch oft als „Blutvergiftung“ bezeichnet – ist ein lebensbedrohlicher Zustand, der als Komplikation bei verschiedensten Infektionen auftritt und durch die unkontrollierte Vermehrung von Viren, Bakterien oder Pilzen im Blut ausgelöst wird. Lange galten die Krankheitserreger an sich als Ursache der Erkrankung. Seit 2016 aber wurde sie neu definiert als eine überschießende und fehlregulierte Antwort des Immunsystems, die dann nicht mehr nur der Abwehr der fremden Erreger dient, sondern auch ein Multiorganversagen hervorruft1. Weltweit erkranken jährlich rund 50 Millionen Menschen an der Sepsis2, Tendenz steigend – und dies nicht nur in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Die Erkrankung kann umso erfolgreicher therapiert werden, je schneller eine eindeutige Diagnose gestellt werden kann. Hierzu ist es heute gängige Praxis, die Erreger mikrobiologisch nachzuweisen sowie die Antwort des Immunsystems mit Biomarkern zu erfassen. Diese Analysen könnten jedoch mehrere Stunden bis Tage dauern.

Vollblutmodell simuliert Entzündungsreaktion bei Sepsis

Der Arzt mit Mundschutz und Laborkittel mit einer Doktorandin vor einem Auswertecomputer.
Dr. David Messerer hat mit seinem Team das Sepsis-Testmodell entwickelt. © Universitätsklinikum Ulm

Hier besteht dringender Handlungsbedarf, wie der Mediziner Dr. med. David Messerer, Leiter der Arbeitsgruppe Immunomonitoring am Institut für Klinische und Experimentelle Trauma-Immunologie des Universitätsklinikums Ulm, findet. Daher hat er es sich schon vor einiger Zeit mit seinem Team zur Aufgabe gemacht, die molekularen Vorgänge rund um die Sepsis zu erforschen und nach Möglichkeiten zu suchen, das individuelle Risiko eines Patienten innerhalb kürzester Zeit einschätzen zu können – beispielsweise mithilfe früher Marker für eine überschießende Immunantwort. So könnten Patienten sehr schnell stratifiziert werden und der behandelnde Arzt kann besser entscheiden, wie intensiv die Erkrankten behandelt werden müssen.

Mit Erfolg: Vor kurzem konnten Messerer und seine Mitarbeiter ein Vollblutmodell zu Forschungs- und zukünftigen Diagnosezwecken präsentieren, das die Entzündungsantwort bei einer Sepsis-Erkrankung realitätsnah simuliert, aber gleichzeitig keine zusätzliche Belastung oder Risken für den Patienten mit sich bringt3. Bisherige Alternativen waren Tiermodelle, die aus ethischen Gründen nur stark begrenzt eingesetzt werden können und für manche Fragestellungen nicht optimal geeignet sind. „Mäuse und Schweine sind nun einmal keine Menschen“, erklärt Messerer. „Tierversuche liefern oftmals klinisch relevante Daten, man kann diese allerdings nicht immer 1:1 übertragen.“

Stabile Verhältnisse wie im venösen Blut

Eine Hand mit Einmalhandschuh pipettiert Blut in ein Glasröhrchen.
Für eine Untersuchung genügen schon wenige Milliliter Blut. © Universitätsklinikum Ulm

Im neuartigen Sepsis-Modell der Ulmer Forscher werden Bakterienbestandteile oder ganze Erreger zu einer Blutprobe gegeben und simulieren die Entzündungsantwort im Blut während der Erkrankung. Durch spezielle Methoden zur Behandlung des Bluts kann dieses außerhalb des Körpers ohne Einschränkungen – also ohne, dass dieses gerinnt – verwendet werden. „Dies war bislang so nicht möglich“, berichtet Messerer. „Nun kann man gefahrlos wenige Milliliter Blut abnehmen und die Entzündungsantwort des menschlichen Immunsystems realitätsnah erforschen. Und dies völlig tierversuchsfrei. Dabei interessiert es uns vor allem, welche Veränderungen im Immunsystem zu erkennen sind und in der Folge natürlich, was wir therapeutisch dagegen unternehmen können. Ein weiterer Vorteil des Modells ist, dass wir das Verhalten der Immunzellen auf neue Medikamente gefahrlos testen können. Ein limitierender Aspekt ist, dass es sich derzeit um ein organfreies System handelt, deshalb werden wir unsere Ergebnisse in künftigen Experimenten auch noch unter Einbeziehung von Zellkulturen und künstlichen Organen absichern.“

Eine selbst gebaute Maschine im Labor, die drei mit Blut gefüllte Schläuche bewegt.
Im Schlauchsystem der Ulmer Forschenden kann eine Blutprobe schnell und wirklichkeitsgetreu auf wesentliche Sepsis-Parameter untersucht werden. © Universitätsklinikum Ulm

Kernstück des Modells aus Blut ist eine Luftblase, die für eine kontinuierliche Zirkulation und Stabilität der Körperflüssigkeit sorgt. „So verhält sich das Blut im Modell ganz ähnlich wie im venösen Teil des menschlichen Körpers, in welchem die Immunzellen überwiegend aktiv sind“, erklärt der Forscher. „Das war uns sehr wichtig. Jedoch besteht ein relevanter Unterschied darin, dass das Herz nicht kontinuierlich, sondern rhythmisch pumpt. Dies haben wir hier bewusst nicht umgesetzt.“

Auf diese Weise kann eine Probe aus Vollblut innerhalb kürzester Zeit auf wesentliche Sepsis-Parameter untersucht werden. Hierbei wird der Fokus nicht auf im Blutplasma gelöste Entzündungsmoleküle gelegt, sondern auf rasch eintretende Veränderungen der Immunzellen. „Das ist ein Paradigmenwechsel in der Sepsis-Diagnose“, erklärt Institutsdirektor Prof. Dr. Markus Huber-Lang, welchem das Projekt ein wichtiges Anliegen ist. „Denn wir können nun die Vorgänge analysieren, die in den Zellen ablaufen. Dazu untersuchen wir die Probe mit Farbstoffen, messen Oberflächenmarker sowie den pH-Wert und sehen uns an, wie weiße Blutzellen mit dem Umfeld interagieren. Das spielt beispielsweise bei der Schädigung von Organen, wie wir sie derzeit auch bei COVID-19 beobachten, eine Rolle. Dabei ist das Immunsystem über Stunden und Tage massiv aktiv und geht gegen den eigenen Körper vor. Es kommt bei dieser sogenannten Thrombo-Inflammation zu Mikrogerinnseln sowie einer Immunzellenaktivierung. Beides kann zu einem Multiorganversagen führen.“

Einfach zu handhabender Diagnostik-Test für jede Klinik

Lediglich im Labor zu Forschungszwecken soll das tierversuchsfreie Modell aus Blut aber nicht bleiben. Die Wissenschaftler wollen das System in Zukunft in der Klinik etablieren, damit man innerhalb von Minuten bis Stunden den Sepsis-Status des eingelieferten Patienten ermitteln kann. „Etwa jeder vierte Patient auf der Intensivstation leidet an Sepsis“, sagt der Messerer. „Hier ist es zwar so, dass wir alle Organfunktionen rund um die Uhr messen und überwachen können, es bisher aber keine solche Möglichkeit für das Immunsystem gibt. Die Parameter hierfür, wie beispielsweise das C-reaktive Protein (CRP-Wert), reagieren mit einer halb- bis sogar ganztägigen Verzögerung. Das dauert viel zu lange. Mit unserem System dagegen messen wir nicht die Zellendprodukte, sondern die Vorgänge in ganzen Zellen. So verkürzen wir die Zeit zur Sichtbarmachung krankhafter Veränderungen signifikant.“

Nach derzeitigem Stand der Forschungsarbeiten könnte man mit Hilfe des Ulmer Modells bereits nach wenigen Minuten wissen, ob eine überschießende Immunantwort auf eine Entzündungsreaktion vorliegt und damit eine erste Risikoabschätzung treffen. Dadurch kann entschieden werden, ob der Erkrankte zunächst wieder nach Hause geschickt werden könnte oder gar unverzüglich auf die Intensivstation verbracht werden müsste.

Zudem wurden mit Hilfe des Modells weitere Kriterien erforscht, die für einen zukünftigen Test des Immunstatus genutzt werden könnten. „Den Test validieren wir nun an Sepsis-Patienten“, sagt der Experte. „Dieser beinhaltet circa 50 Parameter auf Immunzellen und Blutplättchen. In einem letzten Schritt wollen wir dann das Verfahren so praktikabel machen, dass dieses nicht nur ein geschulter Laborangestellter durchführen kann, sondern es eine Lösung für jedes mittelgroße Krankenhaus ist. Idealerweise würde man dann einen Tropfen Blut in Reaktionsgefäßen in ein entsprechendes Analysegerät geben, den Start-Knopf drücken und nach einer halben Stunde das valide Ergebnis in der Hand halten.“

Klinische Studien stehen an

Nach Abflauen der Corona-Pandemie wollen die Forschenden mit mehreren Sepsis-Patienten in die klinische Validierung starten. Zudem soll der Test mit noch weniger Parametern optimiert und dadurch noch schneller werden. Im Erfolgsfall ist es das Ziel, dass die Ergebnisse mit weiteren Klinik- und Laborpartnern in einer multizentrischen Studie bestätigt werden. Auch der Einsatz des Tests bei COVID-19 böte sich an und wäre hoch interessant, so Messerer. Dieser Aspekt werde aber vorerst noch zurückstehen, um laufende Studien nicht zu stören.

Die Entwicklung des Modells wurde durch das Institut für Trauma-Immunologie sowie dem Clinician Scientist Programm der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm für forschende Ärztinnen und Ärzte unterstützt. Darüber hinaus wird das Projekt durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg über das Forum Gesundheitsstandort BW gefördert.

Quellenangaben:

(1) M. Singer et al.: The Third International Consensus Definitions for Sepsis and Septic Shock (Sepsis-3). In: JAMA Band 315 (2016), Nr. 8, S. 801-810

(2) KE. Rudd et al.: Global, regional and national sepsis incidence and mortality, 1990-2017: analysis fort he Global Burden of Disease Study. Lancet (2020) 395:

(3) D.A.C. Messerer et al.: Animal-Free Human Whole Blood Sepsis Model to Study Changes in Innate Immunity. Front Immunol. (2020) https://doi.org/10.3389/fimmu.2020.571992

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/vollblutmodell-ermoeglicht-entwicklung-eines-fruehwarnsystems-bei-sepsis