Mikrobiom: Menschliche Gesundheit eng mit Mikroben-WG vernetzt
Der Mensch beherbergt 1,3-mal so viele Mikroorganismen wie er Körperzellen hat. Diese mikrobielle Gemeinschaft beeinflusst, wie wir unsere Nahrung verdauen, wie aktiv unser Immunsystem ist, aber auch, ob wir eher ängstlich oder neugierig sind. Mittlerweile wird eine Reihe von Erkrankungen mit einem gestörten Mikrobiom in Verbindung gebracht. Bis das Wissen für Therapien genutzt werden kann, müssen Forscher voraussichtlich noch einen weiten Weg gehen.
Jüngsten Schätzungen zufolge leben etwa 38 Billionen (1012) Mikroorganismen in und auf dem Menschen1. Dazu zählen Bakterien, aber auch Viren – vor allem Bakteriophagen, die Bakterien befallen, Pilze, Archaeen und tierische Einzeller. Diese mikrobielle Gemeinschaft bezeichnen Forscher als Mikrobiota oder Mikrobiom des Menschen. Teilweise wird unter dem Begriff „Mikrobiom“ aber auch das gesamte Erbgut unserer Mikroben-WG verstanden, anhand dessen sich die einzelnen Spezies auch ohne langwierige Kultivierung identifizieren lassen2. Immer schnellere und günstigere Methoden zur Sequenzierung von DNA und RNA haben in den vergangenen Jahren einen Boom in der Mikrobiom-Forschung ausgelöst.
Der Großteil der Mikroorganismen besiedelt den Darm. Auch die Schleimhäute in Mund, Nase, Lunge und Scheide sowie die Haut sind von mehr oder weniger Mikroben bevölkert. Sogar im Gehirn soll es eine Bakteriengemeinschaft geben, wobei der Befund noch bestätigt werden muss3. Die meisten der Mikroorganismen sind für den Menschen harmlos und nützen ihm sogar. So erschwert der dichte Mikroben-Rasen auf der Darmschleimhaut und der Haut, aber auch von ihnen ausgeschüttete antimikrobielle Substanzen, dass sich fremde, womöglich krank machende Keime darauf ansiedeln. Im Dickdarm haben sich im Laufe der menschlichen Evolution Bakterien angesiedelt, die einen Teil der Ballaststoffe verdauen, die der Mensch sonst nicht verwerten könnte. Daraus gewonnene kurzkettige Fettsäuren dienen dem Menschen unter anderem als zusätzliche Energiequelle, modulieren das Ablesen von Genen oder lösen im Gehirn ein Sättigungsgefühl aus.
Die Darmbewohner stellen auch Neurotransmitter her und kommunizieren über die Blutbahn und das Nervensystem mit dem Gehirn oder können von diesem beeinflusst werden. Über diese Wege der Darm-Hirn-Achse können Darmbakterien sogar unsere Gefühle und das Sozialverhalten mit beeinflussen. Unserem Immunsystem helfen die mikrobiellen Untermieter zu reifen und die heikle Balance zwischen Entzündung und Toleranz gegenüber harmlosen Mikroben, Nahrungsbestandteilen und körpereigenem Gewebe zu meistern, indem sie etwa überschießende Immunreaktionen dämpfen4.
Jeder Mensch besitzt eigenen mikrobiellen Fingerabdruck
Abgesehen von einigen Arten, die allen Menschen gemeinsam sind, ist das Mikrobiom von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Quasi besitzt jeder Mensch einen individuellen „mikrobiellen Fingerabdruck“. Bereits bei der Geburt, vielleicht auch schon früher, entscheidet sich, welche Mikroorganismen sich zuerst ansiedeln5. Bei einer natürlichen Geburt sind es mikrobielle Scheidenbewohner der Mutter, denen das Baby im Geburtskanal zuerst begegnet. Kaiserschnitt-Kinder werden vor allem mit Mikroorganismen von der mütterlichen Haut besiedelt und scheinen später empfindlicher für Asthma, Allergien und Übergewicht zu sein. Möglicherweise fehlen ihnen in einem kritischen Zeitfenster wichtige Mikroorganismen, um ein normales Immunsystem auszubilden6.
Im Darm des Säuglings steigt die Artenvielfalt des Mikrobioms mit dem Stillen schnell an. Nach der Umstellung von Milch auf feste Nahrung im ersten Lebensjahr ändert sich die Zusammensetzung der Darmbewohner nochmals massiv und stabilisiert sich im Alter von 2 bis 3 Jahren allmählich7. Alte Menschen wiederum haben ein anderes und weniger vielfältiges Mikrobiom als junge Erwachsene. Welche Mikroben sich in der Interaktion mit dem Immunsystem durchsetzen und im Menschen überleben können, hängt ein Stück weit auch von der genetischen Ausstattung jedes Einzelnen ab. Wie sauber die Umgebung ist, in der ein Kind aufwächst, entscheidet ebenfalls, mit welchen Mikroorganismen es in Kontakt kommt. Im Erwachsenen-Alter ändert sich das Darm-Mikrobiom durch die Umwelt weit weniger dramatisch als in der Kindheit, außer durch massive Eingriffe etwa durch Antibiotika oder extreme Ernährungsumstellungen.
Medikamente und Ernährung formen unser Mikrobiom
Das Problem bei Antibiotika ist, dass sie nicht nur Krankheitserreger im Körper zerstören, sondern auch gute Bakterien. Zwar erholt sich die Darmflora nach einer kurzzeitigen Einnahme von Antibiotika innerhalb von 6 bis 12 Monaten, aber einige Arten verschwinden für immer8. Kinder, die Antibiotika ausgesetzt waren, haben später häufiger Asthma und Übergewicht. Ihre Darmbakterien häufen zudem Antibiotika-Resistenzgene an, die schlimmstenfalls auf Krankheitserreger übertragen werden, sodass Antibiotika gegen diese wirkungslos werden9. Auch Nicht-Antibiotika stehen zunehmend im Verdacht, die Darmflora zu zerstören. So zeigten Heidelberger Forscher, dass über ein Viertel von mehr als 1.000 untersuchten Medikamenten – darunter Protonenpumpenhemmer, die bei Sodbrennen oder Gastritis verschrieben werden, und etliche Antipsychotika – das Wachstum von Darmbakterien hemmt10.
Den vielleicht größten Einfluss auf das Wachstum von Darmbakterien hat die Nahrung des Menschen, von der sich seine bakteriellen Untermieter ebenfalls ernähren7. So haben traditionell lebende Volksgruppen in Südamerika und Afrika wie die Jäger- und Sammler der Hazda im Norden Tansanias, die sich ballaststoffreich ernähren, andere und mehr unterschiedliche Bakterien im Stuhl als Menschen in Industrienationen. Hier stehen vermehrt verarbeitete Lebensmittel auf dem Speiseplan, die reich an einfachen Zuckern, tierischen Fetten und Eiweißen sind.
Doch während Steinzeitmenschen noch von der erhöhten Energieausbeute durch Darmbakterien profitierten, können die überschüssigen Kalorien in unserer Überflussgesellschaft zu Übergewicht führen. So haben normalgewichtige Mäuse mehr Körperfett als Artgenossen, deren Darm keimfrei ist. Werden Mäuse nach westlichem Vorbild fett- und zuckerreich ernährt, verschieben sich die Verhältnisse der Darmbakterien hin zu guten Nahrungsverwertern, wie sie auch bei übergewichtigen Menschen beobachtet werden.
Sind Darmbakterien schuld an Zivilisationskrankheiten?
Einige Darmbakterien, die ursprünglich für den Aufschluss komplexer pflanzlicher Kohlenhydrate noch nötig waren, gehen jedoch mit dem Wechsel auf die westliche Ernährung verloren und mit ihnen vermutlich weitere nützliche Gene. Wissenschaftler sehen in dieser bakteriellen Verarmung sogar mit einen Grund dafür, dass Zivilisationskrankheiten in den Industrienationen boomen. In der Tat wird eine Störung der Darmflora, eine Dysbiose, nicht nur bei Übergewicht und damit verbundenen Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beobachtet.
Wenn durch Nahrung, Antibiotika oder sonstige Umwelteinflüsse Bakterien fehlen oder sich die Anteile verschiedener Bakteriengruppen verschieben, könnte dadurch auch die Barrierefunktion der Darmwand nachlassen, sodass vermehrt mikrobielle Substanzen und Toxine den Darm passieren. Die Kommunikation mit dem Immunsystem und dem Gehirn sowie all die Prozesse im Körper, an denen das Mikrobiom beteiligt ist, könnten durch ein Ungleichgewicht der Darmbewohner beeinflusst werden.
Bei den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa greift das Immunsystem beispielsweise die eigenen Darmbakterien an. Das Mikrobiom ist auch bei allergischem Asthma, der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, Darmkrebs sowie bei Erkrankungen des Gehirns wie Depressionen, Autismus, Schizophrenie oder Parkinson verändert. Ob die gestörte Darmflora die Ursache dieser Erkrankungen ist oder erst infolge der Erkrankung entsteht, ist bisher nicht zweifelsfrei geklärt. Vieles, was bisher über die Wirkung des Mikrobioms bekannt ist, stammt von Tierversuchen und muss für den Menschen noch bestätigt werden.
Dennoch bieten Firmen Privatpersonen bereits Analysen ihrer Darmflora inklusive individuellem Ernährungsplan an. Es kursieren Bücher über Mikrobiom-Diäten. Lebende Bakterien oder Hefen und unverdauliche Kohlenhydrate wie Inulin aus Chicoree, Pektin aus Äpfeln oder Oligofructose, die das Wachstum nützlicher Bakterien im Darm fördern sollen, werden als Probiotika und Präbiotika angeboten. Sie werden Nahrungsergänzungsmitteln, Joghurts und Babymilch beigemischt und sollen die Darmflora unterstützen und das Immunsystem stärken. Pro- und präbiotische Arzneimittel in Kapsel- und Tropfenform sollen unter anderem bei Übergewicht oder Darmbeschwerden die Darmflora regenerieren. Auch in Cremes werden Pro- und Präbiotika mittlerweile eingesetzt, um das Gleichgewicht der Hautflora bei Akne oder Neurodermitis wiederherzustellen, der Hautalterung vorzubeugen oder um Scheidentrockenheit zu lindern.
Probiotika – nicht immer sinnvoll
Die Verbraucherzentrale schreibt dazu auf ihrer Webseite: „Es gibt keine Belege dafür, dass Lebensmittel mit speziellen Bakterienkulturen die Gesundheit positiv beeinflussen“11. Für die Behandlung oder Prävention von Krankheiten mit prä- und probiotischen Arzneimitteln, die in der Regel höher konzentriert sind, reichen die Daten meist ebenfalls nicht aus. Zur Therapie von infektiösen Durchfällen und als Schutz vor Antibiotika-bedingten Durchfällen oder Atemwegsinfektionen könnten bestimmte Probiotika laut zusammenfassender Analysen klinischer Studien nützlich sein12. Auch für das Reizdarmsyndrom und Colitis ulcerosa gibt es positive Hinweise.
Doch die Studien sind oftmals klein, variieren in den Methoden und die Ergebnisse sind teils widersprüchlich. Unklar ist zudem, welche Mikroorganismen-Stämme in welchen Dosen für welche Krankheit am effektivsten sind. Ob und wie lange Probiotika im Mikroben-Gewusel im Darm überleben können, scheint außerdem von der individuellen Darmflora abzuhängen13. Laut der Deutschen-Apotheker-Zeitung kamen in jüngster Zeit zudem Zweifel auf, ob Probiotika immer harmlos sind14. Schließlich wurde das in Studien bisher kaum untersucht.
Um das Darm-Mikrobiom positiv zu beeinflussen, besinnen sich andere Forscher stattdessen auf eine Fäkalien-Therapie, die bis in das 4. Jahrhundert zurückreicht. Dabei überträgt der Arzt den aufgeschwemmten Stuhl gesunder Spender mittels Einlauf oder Sonde direkt in den Darm des Patienten, oder der Patient schluckt mit Fäkalien gefüllte Kapseln. Den Patienten statt einzelner Mikroorganismen ein komplettes mikrobielles Ökosystem zu übertragen klingt logisch, schließlich beeinflussen sich die Darmbewohner gegenseitig und kooperieren häufig bei Stoffwechselwegen.
Die Stuhltransplantation wird inzwischen für wiederkehrende Infektionen mit Clostridium difficile empfohlen, wenn die Standardtherapie nicht mehr hilft15. Wenn der Darmkeim sich übermäßig vermehrt, kann er heftige Durchfälle verursachen. Das passiert meist, wenn die Patienten zuvor für längere Zeit Antibiotika eingenommen hatten, sodass die bakteriellen Mitkonkurrenten im Darm drastisch dezimiert sind. Bei über 90 Prozent dieser Patienten verbessern sich nach dem bislang wenig standardisierten fäkalen Mikrobiom-Transfer (FMT) die Symptome. Für andere Erkrankungen, zum Beispiel entzündliche Darmerkrankungen, metabolisches Syndrom, Krebs und Autismus, sind die Daten noch recht spärlich, um eine Stuhltransplantation zu empfehlen. Es gibt mittlerweile auch Hinweise, dass der Erfolg der Therapie von „Superspendern“ mit besonders vorteilhafter Mikrobiom-Zusammensetzung im Stuhl abhängt4.
Fäkaltransplantation: ein Restrisiko bleibt
Noch gibt es unter Wissenschaftlern keinen Konsens, was ein idealer Spender oder ein gesundes Mikrobiom ist, da es von Mensch zu Mensch stark variiert und sich auch innerhalb eines Menschen dynamisch verändert. „Die Übertragung von bekannten und unbekannten Pathogenen ist ebenso denkbar wie eine Aktivierung von unerwünschten Signalwegen im Körper des Patienten, die längerfristig zu Autoimmunerkrankungen oder Tumorbildung führen könnten“, kommentierte André Gessner, Mikrobiologe am Institut für Mikrobiologie und Hygiene Regensburg16.
Erst im Juni 2019 hat die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA eine Warnung ausgesprochen, nachdem sich zwei Patienten durch die Stuhltransplantation mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert hatten, wovon einer starb17. In Deutschland müssen Spender und Stuhl vor einer Stuhltransplantation gründlich untersucht werden, unter anderem auf multiresistente Erreger. Bisher scheinen Stuhltransplantationen nur wenige und milde Nebenwirkungen zu verursachen. Ob sie auch langfristig wirksam und sicher sind, soll unter anderem mit einem deutschlandweiten zentralen Online-Register am Uniklinikum Jena erfasst werden, in das Ärzte seit 2015 Patienten- und Spenderdaten eintragen können18.
Möglicherweise braucht es aber gar keine lebenden Mikroorganismen, sondern nur die von ihnen gebildeten Stoffwechselprodukte, um ein Ungleichgewicht des Mikrobioms auszugleichen und Krankheiten positiv zu beeinflussen. Nisar Malek, medizinischer Leiter des neuen M3 (Malignom, Metabolom, Mikrobiom)-Instituts für Mikrobiom- und Krebsforschung in Tübingen, erwartet einen Trend in Richtung „prokaryotische Pharmakologie“, also der Suche nach therapeutisch wirksamen Substanzen innerhalb des Mikrobioms19. Aber obwohl die dominierenden Bakterien, die den Menschen besiedeln, nahezu vollständig erfasst werden, sind zum Beispiel 80 Prozent der Metaboliten innerhalb des Menschen, unter anderem von seinen mikrobiellen Untermietern, unbekannt, so Malek.
Auf die Katalogisierung folgt die Funktionsaufdeckung
Bedeutende Großprojekte wie das US-amerikanische Human Microbiome Project20 und das europäische MetaHIT-Projekt21, an dem auch das Europäische Molekularbiologie Laboratorium (EMBL) in Heidelberg beteiligt war, begannen 2008 damit, das Mikrobiom verschiedener Körperregionen zu beschreiben. Mittlerweile gibt es neben den Tierversuchen, unter anderem mit keimfreien Mäusen, auch neuere Multiomik-Ansätze, um sich der Funktion der Billionen Mikroorganismen innerhalb des menschlichen Mikrobioms anzunähern. Dabei verknüpfen die Forscher Informationen aller mikrobiellen Genschnipsel in einer Probe (Metagenomik) mit den Daten der zugehörigen Gentranskripte (Metatranskriptomik), Proteine (Metaproteomik) und Metabolite (Metabolomik). Jüngst haben Forscher des Humanen-Mikrobiom-Folgeprojekts diesen Ansatz genutzt, um die Rolle des Mikrobioms bei Frühgeburten sowie in der Entwicklung von Diabetes mellitus Typ 2 und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen zu entschlüsseln22.
Lange stand das Darm-Mikrobiom im Fokus der Forschung, weil es zahlenmäßig das größte ist. Zunehmend werden aber auch die anderen mikrobiellen Gemeinschaften des Menschen untersucht. So erforschen Tübinger Forscher in einem 2019 gestarteten Exzellenzcluster unter anderem auch das Nasen- und Haut-Mikrobiom, um gefährliche Infektionserreger an der Besiedelung zu hindern23.
Noch weitgehend unerforscht sind hingegen die nicht-bakteriellen Mikrobiom-Mitglieder. Vor allem das Reich der Viren im Menschen (Virom) konnte mit den anfangs vorhandenen Sequenziermethoden kaum erfasst werden. Bis die komplexen Netzwerkverflechtungen innerhalb des Mikrobioms und zwischen Mikrobiom und Mensch vollständig verstanden und der Traum der Mikrobiom-basierten Therapie Wirklichkeit wird, wird es in den meisten Fällen wohl noch etwas dauern.