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Roboterarm für mehr Zielgenauigkeit

guidoo: Robotische Assistenz für schnelle und präzise Biopsien

Nadelbasierte Eingriffe durch die Haut, wie beispielsweise Biopsien innerer Organe, erfordern nicht nur viel Geschick und Erfahrung, sondern auch Zeit. Das Fraunhofer IPA Mannheim entwickelt gemeinsam mit der BEC GmbH aus Pfullingen ein robotisches OP-Assistenzsystem, das die richtige Positionierung und Ausrichtung der Nadel mithilfe einer Führungsschiene unterstützt und so den Eingriff bei gleichbleibender Präzision erheblich beschleunigt.

„Die knappste Ressource der Ärztinnen und Ärzte ist Zeit“, beschreibt Diplom-Ingenieur Johannes Horsch die Problematik in der aktuellen medizinischen Versorgung. Als Leiter der Gruppe medizintechnische Assistenzsysteme in der Abteilung Klinische Gesundheitstechnologien am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Mannheim arbeitet er deshalb seit Jahren intensiv daran, diese Situation zu verbessern. „Wenn wir es schaffen, durch intelligente Assistenz – in diesem Fall durch Roboter – bei gleichbleibender Qualität Zeit zu gewinnen, dann profitieren sowohl Patientinnen und Patienten als auch die Klinik davon.“ In derselben Zeitspanne können mehr Kranke behandelt werden, und bei Kosten von 40 bis 60 Euro pro OP-Minute verbessert sich die Kosteneffizienz eines Eingriffs deutlich.

guidoo lenkt die Biopsienadel zum Ziel

Porträtfotos dreier Männer in Jackett und Hemd, links ein Mann mit dunklem Haar und Dreitagebart vor einer grünen Hecke, in der Mitte ein Mann mit Halbglatze und rotblondem Haar vor OP-Lichter und rechts ein Mann mit Glatze ebenfalls im OP.
Johannes Horsch (links) und Armin Schäfer (Mitte) vom Fraunhofer IPA in Mannheim entwickeln zusammen mit Andreas Rothfuss (rechts) von der BEC GmbH das robotische OP-Assistenzsystem guidoo. © Fraunhofer IPA

Ein wichtiges, aber bisher sehr zeitaufwendiges medizinisches Diagnoseverfahren ist die Biopsie innerer Organe, also die Entnahme kleiner Gewebemengen zu weiteren Untersuchungszwecken. Erfolgt diese mithilfe einer Nadel von außen durch die Haut, benötigen die Durchführenden viel Geschick und Erfahrung, um die Zielstruktur im Körperinneren genau zu treffen und umliegendes Gewebe möglichst wenig zu verletzen. Trotz der Unterstützung durch bildgebende Verfahren kann es durchaus 30 bis 45 Minuten dauern, bis die Nadel richtig positioniert ist. Werden mehrere Proben entnommen, verlängert sich der Eingriff entsprechend.

Im Rahmen des Mannheimer Forschungscampus M2OLIE (Mannheim Molecular Intervention Environment), dessen Ziel die Etablierung einer patientenzentrierten und zeitoptimierten Infrastruktur für innovative Tumortherapien ist, startete das Fraunhofer IPA 2013 deshalb auf Anregung aus der Klinik die Entwicklung eines neuen Assistenzsystems: „Mithilfe des Roboterarms guidoo wollen wir es den Anwendenden ermöglichen, eine Biopsie genauso präzise durchzuführen wie eine erfahrene Person, aber deutlich schneller“, erläutert Horsch. In engem Austausch mit den Medizinerinnen und Medizinern der Universitätsklinik Mannheim wurde in den folgenden Jahren ein erstes Gerät konstruiert, das die Positionierung und Ausrichtung der Biopsienadel unterstützt, indem es eine Führungshülse präzise und im richtigen Winkel über der geplanten Einstichstelle platziert. Bereits 2017 zeigte sich in ersten Nutzerstudien an Phantomen (künstlichen Körperteilen), dass ungeübte Medizinstudierende nach zehn roboterassistierten Eingriffen eine sehr hohe Genauigkeit in einer durchschnittlichen Zeit von 6,5 Minuten erreichten. Diese Ergebnisse waren das Startsignal für eine Kommerzialisierung.

Interdisziplinäre Kooperation zwischen Forschung, Industrie und Klinik

Seit 2018 arbeitet das Fraunhofer IPA mit dem Automatisierungsunternehmen BEC GmbH aus Pfullingen zusammen, um den Einsatz von guidoo in der klinischen Praxis zu erproben und ein marktreifes Gerät zu entwickeln. Der zertifizierte Medizinproduktehersteller besitzt langjährige Erfahrung mit Positioniersystemen auf dem Gebiet der Medizintechnik. „Der Neuheitswert von guidoo ist ganz klar die verbesserte zeitliche Effizienz und nicht eine erhöhte Genauigkeit im Vergleich zum Menschen“, erläutert Andreas Rothfuss. Er ist seit Beginn an dem Projekt beteiligt; erst als Mitarbeiter des Fraunhofer IPA und jetzt als Verantwortlicher für die Entwicklung und Zulassungsanstrengungen bei BEC. „guidoo übernimmt das Platzieren und Angulieren der Nadel, also den Teil der Prozedur, in dem wir Menschen sehr langsam sind.“ „Die Ärztin bzw. der Arzt hat aber immer noch die Hoheit über die Behandlung und entscheidet, wie tief die Nadel eingestochen wird. guidoo assistiert nur“, ergänzt Armin Schäfer, der den Bereich roboterassistierte Interventionen am Fraunhofer IPA betreut.

Die praktische Umsetzung verläuft folgendermaßen: Der Roboterarm wird auf seinem mobilen Untersatz direkt an den Operationstisch geschoben, auf dem die erkrankte Person gelagert ist. Mittels Cone-Beam-Computertomografie (CBCT) wird zuerst ein 3D-Bild erstellt, auf dem die Zielstrukturen erkennbar sind. Da sich die Roboterhand ebenfalls im Bildgebungsbereich befindet, kann anhand integrierter Marker eine automatische Kalibrierung zwischen Roboter und Bildgebung erfolgen. Anschließend definiert die Operateurin bzw. der Operateur den Biopsiepunkt sowie die gewünschte Einstichstelle, woraufhin guidoo den besten Zugangsweg berechnet und innerhalb von wenigen Minuten die Nadelführung platziert. Der Mensch kann dann die Nadel geleitet von der Hülse einstechen und nach Kontrolle der Position durch ein weiteres CBCT die Gewebeprobe entnehmen.

Links ist der Roboterarm in der Nähe eines auf dem Operationstisch liegenden künstlichen Torso zu sehen und darüber ein Teil des Computertomografen. Rechts die Hand von guidoo und zwei im Torso platzierte Führungshülsen, durch die eine Hand im blauen Handschuh eine Biopsienadel sticht.
Die „Hand“ (rot) des Roboterarms guidoo platziert unter CBCT-Kontrolle (Gerät vorne links) Führungshülsen an der richtigen Position und im richtigen Winkel, durch die die Operierenden die Biopsienadel stechen können. © Fraunhofer IPA

Zum Nachweis der Sicherheit und Leistungsfähigkeit von guidoo führte der zweite klinische Partner, das Kantonspital Baden, Anfang 2021 erfolgreich erste In-vivo-Versuche an Tieren in einem chirurgischen Schulungszentrum in Straßburg durch. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse werden derzeit in die Steuerung eingearbeitet. Des Weiteren wird die technische Dokumentation erstellt, auf deren Basis bis zum Herbst 2022 eine Zulassung als Medizinprodukt der Klasse IIB erreicht werden soll, sodass ein erster Einsatz am Menschen voraussichtlich noch in diesem Jahr möglich ist.

guidoo bietet viele Vorteile

guidoo beschleunigt den Biopsieprozess deutlich und unterstützt so die zügige Abklärung eines Tumorverdachts. Vor allem, wenn aufgrund von Metastasen mehrere Proben entnommen werden müssen, ist die Zeitersparnis hoch. Laut Rothfuss bewirkt das robotische Assistenzsystem überdies eine Demokratisierung dieser Interventionen, da so auch weniger erfahrene Personen die Eingriffe präzise und schnell durchführen und sie dementsprechend in mehr Einrichtungen angeboten werden können. Des Weiteren erhöht guidoo die Sicherheit und Verträglichkeit für die Patientinnen und Patienten, denn aufgrund der verbesserten Zielgenauigkeit nimmt die Wahrscheinlichkeit für Verletzungen des umliegenden Gewebes ab, und die Dauer der Strahlenbelastung während des Verfahrens verringert sich deutlich – auch für das medizinische Fachpersonal. Unter wirtschaftlichen Aspekten profitieren die Kliniken gleichermaßen von dem Roboterarm, da die Eingriffe kosteneffizienter werden und sich besser planen lassen.

Die Biopsieunterstützung ist aber nur eine mögliche Anwendung von guidoo. Nach der Zulassung sind weitere Einsätze bei Eingriffen denkbar, die ebenfalls lange und dünne Instrumente benötigen, wie beispielsweise chirurgische Bohrer oder bei der Thermoablation (Gewebezerstörung durch Hitze).

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