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Virale Krebstherapie

Mit therapeutischen Viren gegen Tumoren und Metastasen

Viren können Zellbarrieren überwinden und Informationen auf ihre Wirtszellen übertragen. Sie bringen nicht viel eigenes Material dafür mit, denn sie verstehen es, die Infrastruktur ihrer Wirtszelle für sich arbeiten zu lassen. Das macht sie zu hervorragenden biotechnologischen Werkzeugen, die sich eine Arbeitsgruppe vom Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart zunutze macht. Das Team des Innovationsfeldes Virus-basierte Technologien entwickelt ein therapeutisches Virus, das nicht nur Tumoren erkennt und bekämpft, sondern auch das Potenzial hat, Metastasen zu erreichen.

Viele Menschen kennen es: Erst kribbelt es leicht an der Lippe, dann bilden sich juckende Bläschen. Der Verursacher dieser lästigen Infektionserkrankung ist das Herpes-simplex-Virus Typ I (HSV1). Es ist in der Bevölkerung weit verbreitet, doch nur bei 20 bis 40 Prozent verursacht es die beschriebenen Symptome.1)

Das Virus hat den Befall der menschlichen Wirtszelle im Laufe seiner Evolution perfektioniert – und das ist ein Grund dafür, dass die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Susanne Bailer vom Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart es für die Entwicklung neuer Krebstherapien einsetzt. Den Forschenden des Innovationsfeldes Virus-basierte Technologien ist es gelungen, HSV1 so zu verändern, dass es Krebszellen erkennen und sogar abtöten kann, jedoch nicht mehr die oben beschriebenen krankmachenden Eigenschaften hat.

Viren sind strenggenommen keine Lebewesen, sondern Proteinkapseln, in die ein virales Genom eingeschlossen ist. Dieses enthält den Bauplan für das Virus und dessen Vervielfältigungsprogramm. Viren erkennen mithilfe spezieller Rezeptoren sehr spezifisch ihre Wirtszellen, docken an diese an und schleusen ihr Genom in sie ein. Mithilfe des zellulären Stoffwechsels vermehren sie sich in ihrem Wirt. Dieser wird im Laufe der Infektion meist geschwächt – es kommt zu den virustypischen Krankheitssymptomen.

Das Potenzial umprogrammierter Krankheitserreger in der Krebstherapie

Mit ihren Fähigkeiten, mit einem Minimum an Ausstattung Zellgrenzen zu überwinden und Informationen zu übermitteln, sind Viren hervorragende biotechnologische Werkzeuge. „Die Idee, sie zu therapeutischen Viren umzuprogrammieren und im Kampf gegen Krebs einzusetzen, ist nicht neu“, erklärt Bailer. „Aber die Coronapandemie hat der Nutzung und Weiterentwicklung der Technologie einen riesigen Schub verpasst.“ So basiert beispielsweise der COVID-19-Impfstoff der Firma Astra Zeneca auf dem Prinzip eines therapeutischen Virus: Der genetische Code für das Impf-Antigen wird mithilfe eines Adenovirus in menschliche Zellen eingeschleust. Im Zellinneren wird die DNA abgelesen und das Antigen hergestellt. Dieses provoziert die gewünschte Immunantwort. „Der große Erfolg des Unternehmens mit dem weltweit ersten zugelassenen Impfstoff gegen COVID-19 hat die Forschung an gentechnisch veränderten Viren bestärkt“, sagt Bailer.

Mikroskopische Aufnahme der Plaquebildung durch HSV1-Viren (grün fluoreszierend).
Die onkolytischen Herpes-simplex-Viren (grün-fluoreszierend) vermehren sich in den Krebszellen und bringen sie schließlich zum Platzen. © Fraunhofer IGB

Einige Jahre vor der Pandemie wurde bereits ein therapeutisches Virus zur Krebstherapie zugelassen: Talimogen laherparepvec (T-VEC) gilt als Vorreiter für die Immuntherapie mit onkolytischen Viren und ist seit 2015 zur Therapie des malignen Melanoms auf dem Markt.2)

Zur Krebstherapie wird das Virus in einen oder mehrere Tumoren der Patientin oder des Patienten injiziert. Einmal in der Krebszelle angekommen, wirkt es onkolytisch, das heißt es vermehrt sich und bringt die Zelle schließlich zum Platzen (Abb. 1). Dabei kommt es zur Freisetzung bestimmter Tumormarker. Diese wiederum versetzen das Immunsystem in Alarmbereitschaft und lösen eine ganze Kaskade von Entzündungs- und Immunreaktionen aus, die die Krebszellen bekämpfen.

HSV besitzt – anders als beispielsweise das RNA-Virus SARS-CoV-2 – ein DNA-Genom. Das heißt, die genetische Information, die es mit sich führt, ist in Form von DNA im Virusinneren abgespeichert. „Das DNA‑Genom von HSV ist wesentlich größer als das Genom der meisten Viren. Es lassen sich daher zahlreiche für die gewünschte Funktion notwendige Gene darin unterbringen“, so Bailer.

Um das Virus umzuprogrammieren, sind zwei wichtige Schritte notwendig: Zunächst müssen die viralen Gene, die die Krankheitssymptome auslösen, ausgeschaltet werden. Vor allem die neurotropen Eigenschaften gilt es zu unterdrücken, also die Fähigkeit des Herpesvirus, in die Nervenbahnen einzuwandern und dort schwere Schäden wie beispielsweise Hirnhautentzündungen auszulösen.

Therapeutische Viren wirken lokal und systemisch

Dem unschädlich gemachten Virus können die Funktionen, also zur Krebsbekämpfung vorteilhafte Gene, eingepflanzt werden. Dazu gehört beispielsweise ein Merkmal, das Bailer als „Zielsteuerung“ bezeichnet: Es bewirkt, dass die Viren nach der Injektion in das Tumorgewebe ausschließlich Krebszellen attackieren und gesunde Zellen aussparen.

Daneben können auch andere Gene inseriert werden, beispielsweise solche, deren Proteine immunmodulatorische Wirkung im Körper der Patientinnen und Patienten auslösen. So kann man unter anderem den genetischen Code für so genannte Immuncheckpoint-Inhibitoren einsetzen; das sind Antikörper, die schon heute zur Krebstherapie zugelassen sind. Sie docken an bestimmte Kontrollstellen des Immunsystems an und machen Krebszellen für die körpereigene Immunabwehr angreifbar. „Das Immunsystem ist unsere stärkste Waffe gegen Krebs. Therapeutische Viren, wie die von uns entwickelten, können das Immunsystem zielgerichtet stimulieren, sodass der Körper sich besser gegen die entarteten Zellen wehren kann“, so Bailer. „Das therapeutische Virus wirkt also nicht nur lokal im Tumor, sondern indirekt über das Immunsystem auch systemisch, im gesamten Körper. Unsere große Hoffnung ist, dass wir dadurch auch eine Wirkung auf eventuelle Metastasen erreichen können.“

TheraVision: Entwicklungs- und Testplattform für therapeutische Viren in Modulbauweise

Labormitarbeitende holt eine Zellkulturflasche aus dem Inkubator.
Inkubator für Zellkulturen. © Fraunhofer IGB

Ähnlich wie das bereits zugelassene T-VEC, so soll auch das onkolytische Herpes-simplex-Virus der Arbeitsgruppe um Bailer einmal als Vektor für die immuntherapeutische Bekämpfung von Tumoren eingesetzt werden können. Die Forschenden haben eine modulare Plattformtechnologie zur Herstellung und Testung von Viren für die Tumortherapie zum Patent angemeldet: Mit TheraVision können die einzelnen therapeutische Funktionen nach Bedarf flexibel miteinander kombiniert werden – je nach benötigtem Zielorgan und Wirkmechanismus.

Dieses modulare Engineering hat den Vorteil, dass funktionalisierte Viren schneller und einfacher hergestellt und in Präklinischen Modellen getestet werden können. Das beschleunigt die Präklinische Entwicklung und erleichtert den für Arzneimittel erforderlichen GMP-Prozess (Good Manufacturing Practise). Bailers Team hat zusammen mit mehreren anderen Fraunhofer-Instituten bereits Technologien zur Virustherapie des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms (NSCLC) mit TheraVision entwickelt. Erste Präklinische Tests sind erfolgreich verlaufen. Nun sollen Klinische Tests für die kombinierte Virus-Immuntherapie folgen.

Literatur:

1) IQWiG. Lippenherpes, gesundheitsinformation.de. https://www.gesundheitsinformation.de/lippenherpes.html. Abgerufen am 29.07.2022.

2) Livingstone E und Roesch A. Talimogen laherparepvec zur Behandlung des metastasierten Melanoms (Stad. IIIB–IV M1c). Arzneimitteltherapie 2016; 34:249–50.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/mit-therapeutischen-viren-gegen-tumoren-und-metastasen